Buchkritik -- Edzard Reuter -- Stunde der Heuchler

Umschlagfoto  -- Edzard Reuter  --  Stunde der Heuchler Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Diese Binsenweisheit gilt auch für die von Edzard Reuter publizierte Generalabrechnung mit dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Milieu in Deutschland. In seinem Buch Stunde der Heuchler will der Autor seinen Lesern zeigen Wie Manager und Politiker uns zum Narren halten. Nun ist Edzard Reuter nicht Irgendwer, sondern ein Mann, der jahrelang an der Spitze eines großen deutschen Automobilkonzerns Führungsverantwortung besaß. Aus diesem Grund macht es den Leser natürlich mehr als neugierig, zu erfahren, wie ein ehemaliger hochkarätiger Manager die aktuelle gesellschaftliche Situation interpretiert.

Bei der Beschreibung eines wie auch immer gearteten Zeitgeistes werden gerne monokausale Beweggründe und Triebe zur Erklärung menschlichen Verhaltens angeführt. Egoismus, Gier, Herrschsucht und Sex sind da nur einige Beispiele für eine "Aufklärung" mit erhobenem Zeigefinger. Dass alle diese, sich auf ein einziges Attribut konzentrierenden Welterklärungsversuche scheitern müssen, ist evident.

Edzard Reuter verortet die aktuelle gesellschaftliche Situation, die, da ist ihm durchaus beizupflichten, augenscheinlich in der Auflösung tradierter Werte und Normen besteht, in der Heuchelei. Das Predigen von Wasser, bei heimlichem Genuss von Wein, ist eine Eigenschaft von Zynikern, die wider besseres Wissen munter dem Weg der Lemminge folgen, der, wie wir alle wissen, stets in den Abgrund führt.

Ist die Analyse Reuters noch korrekt, dass der Zusammenbruch der Finanzmärkte - hier sieht der Leser, dass dieser Mann weis, wovon er spricht - auf vorgeschobenen, geheuchelten aber nicht vorhandenen Kenntnissen dessen, was hinter den Derivaten, Hedges Fonds, Verbriefungen und falschen Rating-Prognosen beruhte, so ist doch der weite Bogen, der den Autor dann zu seinem Schluss führt, dass das fiese Bürgertum - bei Reuter ein weit gefasster Begriff - die wahre Ursache für die aktuellen Probleme darstellt, nicht nachzuvollziehen.

Bürger oder Citoyen - im Grunde genommen ein Streit um des Kaisers Bart, ist für den Autor ein Synonym für die von der gesellschaftlichen Realität abgehobenen Statusansprüche einer sich selbst für unangreifbar und mit weit über dem gesellschaftlichen Niveau liegenden Ansprüchen auf Selbstvergottung daher kommenden Klasse von Mitbürgern, die sich ausschließlich um sich selbst und ihre eigenen Interessen kümmert.

Ausgehend von Reuters durchaus korrekter Analyse einer moralisch destabilisierten Gesellschaft, ausgehend von einem inzwischen globalisierten Kapitalismus anglo-amerikanischer Prägung, dem der Autor - wiederum zu Recht - die Errungenschaften der Marktwirtschaft Erhard`scher Prägung vorzieht, benennt er jedoch nicht die eigentlich Verantwortlichen für den Zusammenbruch tradierter Werte und Normen in Deutschland.

Der US-Kapitalismus hätte nicht so verheerende Folgen gehabt, wäre nicht in Deutschland seit den späten 60er Jahren eine Generation an die Schalthebel der Macht gelangt, die sich für den ungehemmter Turbokapitalismus als durchaus nützliche Idioten erweisen hat. Der erfolgreiche "Marsch durch die Institutionen" und mit ihm die Negierung aller bestehenden gesellschaftlichen Werte hat in Wahrheit erst das Fundament für den "Kasino-Kapitalismus" gelegt, dessen Auswirkungen auch Edzard Reuter beklagt.

Wenn sich der Autor dann im gleichen Atemzug über ein Bürgertum mokiert, dem er, wie er zugibt, selber angehört, dann ist man in Versuchung empört aufzuspringen und ihm zuzurufen, dass es dieses Bürgertum - dem eigentlichen Träger jeder gesellschaftlichen Stabilität - nicht mehr gibt. Reuter kann oder will nicht sehen, dass es nur noch ein linksintellektuelles Spießermilieu gibt, welches eine Kakophonie von leeren Worthülsen als fortschrittliches Bewusstsein feiert.

Die Rückführung gesellschaftlicher und politischer Zustände auf monokausale Zustandsbeschreibungen ist immer ein Problem und damit keine wirkliche Hilfe bei einer tragfähigen Analyse. Scheinbar klare Ursachen erweisen sich bei näherer Betrachtung als argumentative Falle. In diese ist leider auch Edzard Reuter mit seinem Buch Stunde der Heuchler gefallen.




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