Buchkritik -- Kettly Mars -- Fado

Umschlagfoto  -- Kettly Mars  --  Fado Eine individuelle Krise, eine Zäsur im Ablauf des scheinbar Gewohnten führt oft dazu, die eigene Existenz radikal zu hinterfragen. Das Alltägliche wirkt banal, die vielleicht immer schon tief sitzende Sehnsucht nach Veränderung bricht durch die Oberfläche der gelebten Eintönigkeit. Diese Wandlung kann eine Chance sein, aber auch Krisen auslösen, die sich lange unter dem dünnen Firnis der Selbstverständlichkeit verborgen gehalten haben.

Die haitianische Autorin Kettly Mars zeigt in ihrem Roman Fado eine Frau, die nach der Scheidung von ihrem Mann ihre Identität neu definiert, neu definieren muss, da alte Gewissheiten nicht mehr gültig sind und niemand diesen Zustand des Unbestimmten, des Nichtverortetseins, ertragen kann. Anaïse, eine bürgerliche Frau, beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig, findet eine neue Identität als die Prostituierte Frida in einem billigem Bordell in der Unterstadt von Port-au-Prince.

In dem Spannungsfeld zwischen etablierter Existenz und käuflicher Liebe, zwischen langweiliger Logik und männlicher Triebbefriedigung, wagt Frida den Spagat zwischen Selbstbestimmung und freiwilliger Hingabe an fremde Männer. Als Geliebte des Bordellbesitzers Bony akzeptiert sie die ungewohnten Spielregeln in dem für sie neuen Milieu.

Die Autorin hat einen Roman geschrieben, der die Leser daran teilhaben lässt, wie es einer starken und stolzen Frau gelingt, sich neu zu definieren. Sie, die vermeintlich Verlassene, die sich nach dem Willen einer Kollegin auch so verhalten sollte - traurig, niedergeschlagen und tränenreich - triumphiert in Wirklichkeit sowohl über ihren Mann, als auch über ihren neuen Geliebten.

Die beiden Männern sind die Pole, in deren Spannungsfeld Frida-Anaïse vordergründig gefangen ist. Gegenüber ihrem geschiedenen Mann Léo, den es immer wieder in ihre Arme treibt, ist sie wegen ihrer Tätigkeit als Prostituierte die Überlegene und Unsentimentale. Durch Ihren neuen Geliebten fühlt sie sich dagegen als Frau bestätigt. Von beiden wird sie jedoch enttäuscht. Erst aus diesen persönlichen Niederlagen gelingt es ihr, sich selber wiederzufinden. Der Schmerz einer betrogenen Frau gibt ihr die Kraft zur eigenen Wiedergeburt.

Dieses Stück Literatur, kongenial übersetzt von Antje Tennstedt, ist durchwoben vom Rhythmus des Fado, der, beheimatet in Portugal, von unglücklicher Liebe, von unerfüllter Sehnsucht, von Arm und Reich und vom Schmerz, der den Menschen innewohnt, singt. Frida-Anaïse kennt diesen Schmerz und die Sehnsucht nach Erfüllung. Sie lernt allerdings auch, dass in dieser Erfüllung bereits die nächste Pein lauert, dass menschliche Beziehungen per se zum Scheitern verurteilt sind.

Übrig bleibt allein der Wille zur bewussten Existenz und zur selbst bestimmten Handlung. Anaïse musste sich in Frida verwandeln, um, nicht zuletzt durch die individuellen Schicksale ihrer Bordellkolleginnen, zu sich selbst zu finden. Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn sich Frida wieder in Anaïse verwandelt und sich mit einer drastischen Handlung ihre neue Freiheit erkämpft.

Wer diesen Roman von Kettly Mars liest, dessen Sätze teilweise eher wie Poesie klingen, tut gut daran, sich die Musik von Amália Rodrigues, der Lieblingssängerin sowohl von Frida-Anaïse als auch der Autorin zu Gehör zu bringen. Ist Fado bereits bewegende Literatur, so erschließt sich die ganze Weite des inneren Horizonts von Frida-Anaïse nur durch die Stimme von Amália Rodrigues.




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