Buchkritik -- John Irving -- Straße der Wunder

Umschlagfoto, Buchkritik, John Irving, Straße der Wunder, InKulturA Eines vorweg: der Leser braucht viel Geduld und guten Willen, will er John Irvings Roman "Straße der Wunder" hinter sich bringen. Auf 784 Seiten lässt der Autor die Figur des Juan Diego sein Leben rekapitulieren. Zusammen mit seiner Schwester Lupe lebte er auf einer Müllkippe, deren Besitzer - offiziell nicht deren Vater - sich um die beiden kümmerte.

Lupe, sich einer außer für ihren Bruder unverständlichen Sprache bedienend, hat rudimentär hellseherische Kräfte, die Juan Diego einst das Leben retten sollen. So weit, so schlecht. Irving, der so wunderbare Romane wie "Garp und wie er die Welt sah", "Das Hotel New Hamphire" oder "Gottes Werk und Teufels Beitrag" geschrieben hat, ist in seinem neuen Werk nur noch ein Chronist der Langeweile. Hin und her taumelnd zwischen Viagra und Beta-Blockern träumt sich der inzwischen in die Jahre gekommenen Schriftsteller Juan Diego immer wieder in seine Kindheit zurück und nimmt den Leser mit auf eine strapaziöse Reise in die Welt religiöser Bilder und Vorstellungen. Da lässt er seine Figuren schon einmal seitenlang über die Darstellung der Mutter Gottes in Gestalt einer Holzfigur als Reiseandenken für Touristen diskutieren und diesen dadurch gefährlich nahe an die Schwelle der Aggressivität bringend.

Obwohl Irving wieder einmal die Themen Abtreibung, Homosexualität und Religiosität behandelt, lässt er den Leser diesmal enttäuscht und ratlos zurück, denn "Straße der Wunder" wirkt dermaßen lieb- und einfallslos geschrieben, dass das Werk den Anschein erweckt, eher einem vor Jahren mit dem Verlag geschlossenen Vertrag über eine bestimmte Anzahl von Büchern geschuldet zu sein, als einer schriftstellerischen Inspiration.

Taumelnd zwischen der Gegenwart eines alten und manchmal verwirrten Mannes und dessen Vergangenheit, wiederholt sich Irving dermaßen oft, dass der Leser ebenso oft mit dem Gedanken spielt, das Buch beiseite zu legen. Im Ernst, spätestens nach der dritten Erwähnung, dass die Müllkippe sich in Oaxaca/Mexiko befindet, weiß auch der Leser mit einem nur rudimentär ausgestatteten Gedächtnis, wo und mit wem Juan Diego seine Jugend verbracht hat.

Das wird allerdings noch von der Passage des Romans übertroffen, in der der durch die Unachtsamkeit des Müllkippenbesitzers schwer Verletzte Juan Diego heftig blutend und mit starken Schmerzen darnieder liegt und sich die umstehenden Personen, als da wären die Mutter, der alte und der neue Missionar, in sinnlosen Schwafeleien gefallen, anstatt das Unfallopfer sofort ins Krankenhaus zu bringen. Das ist, bei allem Respekt für literarische Freiheit, starker Tobak.

Sportler wissen, wann sie ihre Karriere besser beenden. Bei Schriftstellern scheint das leider nicht der Fall zu sein. "Straße der Wunder", ein Roman für literarische Masochisten.




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Veröffentlicht am 9. Juli 2016