Buchkritik -- Roy Jacobsen -- Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte

Umschlagfoto  -- Roy Jacobsen  --  Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte Der zehnjährige Finn lebt 1961 mit seiner Mutter in einer Vorstadt von Oslo. Seinen Vater, der bei einem Unfall starb, hat er nie kennengelernt. Eines Tages wird das Leben von Finn und seiner Mutter durch die Aufnahme eines Untermieters und dem Auftauchen seiner Halbschwester aus den gewohnten Bahnen geworfen. Linda, die sechsjährige Tochter seines Vaters wird von ihrer drogenabhängigen Mutter in die Obhut von Finns Mutter gegeben. Das dickliche und geistig zurückgebliebene Mädchen wird auf Finn einen nachhaltigen Einfluss ausüben.

Roy Jacobsens Roman, dessen norwegische Originalausgabe Vidunderbarn - Wunderkind - bereits im Jahr 2009 erschien, wird jetzt vom Osburg Verlag in einer deutschen Übersetzung von Gabriele Haefs unter dem Titel Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte herausgegeben.

Der Roman beschreibt die Erlebnisse, die Gefühle und die Lebenssicht aus der Perspektive eines Jungen, der sich an der Grenze, bzw. dem Übergang zwischen Kind und Jugendlichem befindet. Die heile Welt der Kindheit bekommt die ersten Risse und das enge Verhältnis zur Mutter gerät durch den Kontakt mit dem neuen Untermieter und das für Finn bislang unbekannte Zusammenleben mit einer Halbschwester in einen Prozess der Auflösung.

Das Weltgefüge und der Horizont eines zehnjährigen Jungen, bestehend aus der Welt "da draußen" mit seinen Freunde und der Schule einerseits und der Welt "da drinnen" mit der engen Verbindung zur Mutter wird nach und nach durch eine Erweiterung der Außenwelterfahrung verschoben. Linda, von Finn zuerst mit Argwohn und Ablehnung bedacht, wird ihn ungewollt zu einer Verschiebung seiner bisherigen Begrenzungslinie führen. Erst langsam lernt er, für sie Verantwortung und Fürsorge zu übernehmen. Im Zuge dessen wird er schneller als ihm lieb ist, die für ihn bisher vielfach verworrene Welt der Erwachsenen zur Kenntnis zu nehmen. Nicht alle Fragen, die sich für Finn daraus ergeben, werden ihm beantwortet. Schnell stellt er fest, dass eine Antwort in der Regel das Auftauchen weiterer Fragen beinhaltet. So auch das etwas komplizierte Verhältnis seiner Mutter zu ihrer Verwandtschaft.

Roy Jacobsen hat einen sensiblen Roman über die schwierige Zeit im Leben eines Jungen geschrieben, der sich langsam vom Einfluss seiner Mutter trennen muss. Ausgerechnet die vermeintlich schwache und hilfebedürftige Halbschwester hilft ihm bei seiner Entwicklung. Finn erkennt, dass auch er Verantwortung übernehmen muss. Er bemüht sich darum, Linda Lesen und Schreiben beizubringen und ist darüber empört, dass sie in eine Klasse für lernschwache Schüler geschickt werden soll. Dieser, ihm zuerst peinliche Vorgang bringt ihn dazu, ein Pflichtgefühl für seine Halbschwester zu entdecken.

Weit davon entfernt eine Kindheit in den sechziger Jahren zu verklären, zeigt Jacobsen eine Familienkonstellation, die, heute normal, vor fünfzig Jahren jedoch außergewöhnlich war. Finns Mutter, eine Frau, die sich nach Kräften bemüht, das in ihrer Macht stehende zu tun, um sich und zwei Kinder durch das Leben zu bringen, gibt trotz beschränkter Mittel niemals auf. Auch wenn sie die ihr Leben bestimmenden Faktoren nicht immer richtig verorten kann, gibt sie das Bild einer starken Frau und Mutter ab, die sich jedoch auch von den harten Fakten der gesellschaftlichen Realität geschlagen geben muss.

Der Roman Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte ist sowohl ein Gesellschaftsbild Norwegens der sechziger Jahre, als auch die subtil erzählte Geschichte einer Grenzüberschreitung zwischen der Kindheit und der Zeit des Heranwachsens mit ihren oft schmerzhaften Erfahrungen. Niemals in Gefahr laufend in Klischees zu verfallen, hat Roy Jacobsen, in Norwegen einer der Schriftsteller, dessen Werke dort zu den Meistgelesenen zählen, eine bewegende Familiengeschichte geschrieben, die sowohl humorvoll, als auch mit einem, den Leser bewegendem Gespür für die oftmals unbemerkt bleibenden kleinen Dinge daherkommt.




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