Buchkritik -- Peter Strasser -- Umdrehen und Weggehen

Umschlagfoto, Buchkritik, Peter Strasser, Umdrehen und Weggehen, InKulturA Abwenden, nicht mehr zuhören, sich dem Diskurs, der doch laut Habermas „herrschaftsfrei“ ist, verweigern. Ist das möglich in einer Zeit, deren Geist von einer schier unerschöpflichen Informationsflut geprägt ist, in der das Digitale das Versprechen gibt, das Analoge, die Diskussion als verbale Kommunikation abzulösen und anstelle dessen auf „Links, Likes und Followers“ setzt, also von jetzt an Mehrheiten und nicht harte Fakten, seien es wissenschaftliche, soziale oder ökonomische, den Gedankenaustausch, der dann in Wirklichkeit keiner mehr ist, bestimmen?

Wie aber dem Zwang, der von Zeitgeist geforderten Doktrin „habe zu allem eine Meinung, unabhängig davon, ob du auch das notwendige Wissen besitzt, um sie dir zu bilden“, entkommen, wo doch „den Rücken kehren“, oder wie der Titel des Buches von Peter Strasser es pointiert formuliert, „Umdrehen und Weggehen“ fast den Rang eines gesellschaftlichen Kapitalverbrechens besitzt?

Doch kann man überhaupt noch von einer Gesellschaft sprechen, wenn jeder und jede glaubt, die eigene Filterblase sei der Mittelpunkt der Welt, in der durch, wie der Autor es schreibt, „... einen breitgefächerten und tiefreichenden Hang zur Psychologisierung aller menschlichen Beziehungen“ eine Pseudo-Individualität geschaffen wird, die dem Diskurs die vielleicht nie vorhandene Herrschaftsfreiheit entzieht und das Insistieren darauf, die eigenen Weltsicht sei die einzig richtige, jegliche zwischenmenschliche Interaktion zum Scheitern verurteilt?

Wer nicht untergehen will in der Kakophonie gegensätzlicher Attitüden, die sich mangels Wissen als Klickmeinungen, als digitale Bruchstücke vermeintlicher Information darstellen, der muss sich, oft angewidert, umwenden und davongehen. Wer glaubt, alles gesagt zu haben, der tut gut daran, den Jahrmarkt der Eitelkeiten zu verlassen und sich damit dem Geschwafel der Vielstimmigen zu entziehen.

Doch diese Einstellung, die ohne Frage wesentlich zur Erhaltung der geistigen Gesundheit beträgt, hat, wie jede individuelle Lebensphilosophie einen nicht unwesentlichen Haken. Sie lässt sich diejenigen im Recht wähnen, die, bildlich gesprochen, als letzte den Tisch verlassen. Die, noch einmal bildlich gesprochen, über genügend Sitzfleisch verfügen, oder wie sie es nennen, die „besseren Argumente“ besitzen.

Wer sich umdreht und weggeht, der hört auch auf zu sprechen, verweigert, oft zu Recht, den Diskurs, der keiner mehr ist – und überlässt den Lauten, den Krakeelern, den Parolenschwingern, kurz gesagt, den bestenfalls nur halb oder noch weniger Informierten die Meinungshoheit.

Was sich auf den unteren Ebenen, z. B. bei der Satzung eines Taubenzüchtervereins als gesamtgesellschaftlich irrelevant erweist, sieht weiter oben auf der staatlichen Ebene, wenn es um Fragen des sozialen Miteinanders geht, vollkommen anders aus. Es gibt Dinge, Werte und Regeln und da gehe ich mit Peter Strasser vollkommen konform, die nicht verhandelbar sind.

Wenn, wie es aktuell geschieht, einige dieser eigentlich nicht zur Disposition stehenden Werte durch interessierte Kreise unter Dauerbeschuss stehen, kann und darf Abwendung nicht geschehen, da die große Gefahr besteht, dass aus der Meinung derjenigen, die als letzte die Arena der Weltanschauungen verlassen, politische Macht wird. Damit wäre das Ende der Demokratie eingeläutet.

Was aber geschieht, auch das spricht der Autor zum Schluss an, wenn sich die Welt von mir abwendet? Wenn mich die Dinge nicht mehr berühren, nicht mehr zu mir sprechen? Wenn mich das, was mich einst bewegt, erregt hat, nicht mehr erreicht, stumm bleibt? Wenn ich also alt geworden bin, wäre dann nicht weggehen nur ein anderes Wort für Altersuizid?

Medizinischer Fortschritt und gesellschaftlich-ökonomische Bedingungen haben die Lebensspanne der Menschen beträchtlich erweitert und doch gilt das „Abtreten und Weggehen“, der Tod, die biologische Voraussetzung neuen Lebens, von Evolution überhaupt, als Kränkung menschlichen Selbstbewusstseins und nicht nur der Transhumanismus will diesem Makel durch Verschmelzung von Mensch und Maschine Abhilfe schaffen.

Doch ist der Tod wirklich eine Beleidigung und steht am Ende, sollten sich wissenschaftliche Utopien wider Erwarten als realisierbar erweisen, eine bessere Zukunft bevor wenn er überwunden sein sollte und diejenigen, die es sich finanziell leisten können – die Möglichkeit des „ewigen Lebens“ wird nur zahlungskräftigen Kunden zur Verfügung stehen – dann schon auf der Erde das Paradies vorfinden?

Wer dieses Schreckensszenario für erstrebenswert hält, hat in Wirklichkeit Angst vor dem Hier und Heute und hält das Leben, so Strasser, für defizitär. Dabei obliegt es, so noch einmal Peter Strasser, dem Selbstbewusstseinstier Mensch dafür zu sorgen, dass, bevor er endgültig „Weggeht“, sein Leben angefüllt war mit all dem, was es lebenswert und sinnvoll gemacht hat. Wem das gelungen ist, der geht nicht wirklich fort, sondern bleibt in den Gedanken derjenigen, die ihn kennenlernen durften, immer präsent.

Nur die, die es nicht wagen „zu leben“, träumen von der Ewigkeit.




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Veröffentlicht am 16. September 2020