Buchkritik -- Verena Halvax -- Am Kippen

Umschlagfoto, Buchkritik, Verena Halvax. Am Kippen, InKulturA „Irgendwo am Weg muss ich mich verloren haben.“ Das stellt Sandra eines Tages fest. Doch wo und wann ist dieses Verlorensein zu verorten? Die Reflexion darüber erweist sich als schwierig, denn die 44-jährige Frau ist eingebunden, ja geradezu gefesselt an die tägliche Fron der Normalität, die in ihrem Fall darin besteht, als selbständige Fotografin genug Geld für sich und ihre drei Kinder zu verdienen, die sie, da geschieden, allein erziehen muss.

Es ist ein circulus vitiosus, denn Sandra will, muss alles richtig machen. Regelmäßiges Einkommen erzielen, dabei, schnell wechselnden Kundenwünschen geschuldet, zeitlich äußerst flexibel sein. Die drei bei ihr lebenden Kinder, eine bereits ältere Tochter studiert in der Großstadt, wollen versorgt und betreut werden und befinden sich in einem Alter, in dem elterlich-pädagogische Führung besonders wichtig ist.

Doch die Maschine Sandra, die Einheit aus Körper und Seele, aus Physis und Psyche verweigert mehr und mehr den Dienst. Kann nicht mehr, will manchmal auch nicht mehr, muss jedoch weiter funktionieren, denn ihrer Verantwortung für sich und andere, für ihre Kinder kann und will sie sich nicht entziehen.

Sie mag zwar nicht mehr wissen, an welchem Punkt der Weg verlassen wurde, weil das im Endeffekt auch vollkommen unerheblich wäre, denn wie in Beton gegossenes Vergangenes wird auch durch die Beschwörung des Konjunktivs, einer nach hinten verschobenen Ausflucht vor der Realität nicht verändert, doch sie weiß um ihre momentane Situation und die ist dramatisch geprägt durch Panikattacken, Selbstzweifel und Einsamkeit.

Alltägliche Situationen laufen aus dem Ruder und banale Dinge, wie die steile Zufahrt zum Ferienhaus, lösen Herzrasen aus. Die Normalität verschwimmt zu einem dunklen Korridor, aus dem es jedes Mal schwerer wird, wieder herauszutreten.

Verena Halvax hat einen bedrückenden Roman über die Herausforderungen der Moderne an das Individuum geschrieben. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Anforderungen sind immens. Hohe Flexibilität trotz oder gerade wegen finanzieller Unsicherheit, eine Omnipotenz bezüglich der gesellschaftlichen Anforderungen bei gleichzeitiger Androhung von Sanktionen, sollten diese hinsichtlich einer verantwortungsvollen Erziehung der Kinder nicht erfüllt werden.

Ohne Frage, Sandra ist eine starke Frau, die um ihre Verantwortung weiß, die ihre Verpflichtungen ernst nimmt und gewissenhaft ausübt. Leider jedoch nicht die Pflicht gegenüber sich selber, ihre körperliche und seelische Gesundheit zu bewahren. Doch wie soll das auch in einem System funktionieren, das den Einzelnen durch die sukzessive Negierung traditioneller Rollenmuster auf sich selber zurückwirft?

Dabei ist nicht das Aufbrechen rigider Verhaltensweisen das Problem, sondern die Tatsache, Sandra spürt es schmerzhaft am eigenen Körper, dass, wer genau das wagt, am Ende allein gelassen wird. Ökonomisch und gesellschaftlich, oder, um es auf den Punkt zu bringen, alle wollen etwas von ihr, doch niemand kann ihr das, was sie dringend benötigt, geben: Ruhe, Verständnis und ein offenes Ohr.

Da sie keine externe Hilfe erhält, vielleicht auch nicht erhalten will, unternimmt sie, eben weil sie eine Kämpferin ist, einen dramatischen Versuch zur Lösung ihrer Probleme.

Ob sie am Ende des noch 6,4 Kilometer entfernten Tunnels jedoch das viel gepriesene Licht sehen wird, ist ihr zwar zu wünschen, bleibt nichtsdestoweniger aber offen.




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Veröffentlicht am 20. Juli 2020