Buchkritik -- Jérôme Ferrari -- Predigt auf den Untergang Roms

Umschlagfoto, Jérôme Ferrari, Predigt auf den Untergang Roms Ein vergilbtes Foto ist der Auslöser rückblickender Meditationen von Marcel Antonetti. Der alte, auf Korsika geborene Mann betrachtet sein Leben aus der Perspektive eines Menschen, dem es nicht gegönnt war, eben dieses Leben mit selbst bestimmtem Sinn zu erfüllen. Als Kind krank und schwächlich, im weiteren Verlauf seines Lebens von den Umständen hin und her geworfen, ist der Blick zurück erfüllt von Selbstekel und Verbitterung.

Jérôme Ferrari hat in seinem, mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Predigt auf den Untergang Roms" die große Frage nach dem, wie es immer nur oberflächlich bezeichnet werden kann, gelungenen Leben thematisiert. Die Reflexionen Marcels sind das Bindemittel dieses wortgewaltig, dunkel metaphernd und mit wahrhaft ausschweifender Introspektion sich präsentierenden Romans.

Im Mittelpunkt dieses, wieder einmal von Christian Ruzicska kongenial übersetzten Werks stehen Matthieu Antonetti, der Enkel Marcels und Libero Pintus, ein im Dorf geborener und dort aufgewachsener Junge. Beide studieren an der Pariser Universität Philosophie. Matthieu forscht über Leibniz und Libero beschäftigt sich mit Augustinus. Diese beiden Weltentwürfe, Leibniz und die "Beste aller Welten", sowie Augustinus und die zwingende Vergänglichkeit allen Seins, bilden den narrativen Hintergrund des Romans.

Des Studiums überdrüssig, beschließen beide im heimischen Dorf eine umsatzschwache Bar zu übernehmen. Das, so wie sie es nennen, richtige Leben lockt. Durch geschickte Personalpolitik, Ferrari beschreibt sie sehr plastisch und für den Leser handgreiflich-erotisch, wird die Bar eine auf ganz Korsika beliebte Kneipe. Eine aus dem Rotlichtmilieu stammende Tresenkraft, die eine sehr intime Art der Begrüßung männlicher Gäste kultiviert und mehrere junge Frauen, die von Matthieu und Libero als Bedienung eingestellt werden, sorgen für steten Nachschub an trink- und sexfreudigen Männern.

Doch die Idylle der "Besten aller Welten" währt nicht lange. Zwei Sommer und der dazwischen liegende Winter hält die Illusion des permanenten Glücks. Danach fordert die Brüchigkeit menschlicher Verhältnisse ihren Tribut. Die Harmonie bekommt Risse, der Alltag entfremdet zusehends und zum Schluss zerstört ein harmloser Spott den dörflichen Frieden und wirft die Menschen wieder zurück in ihre individuelle Einsamkeit.

Jérôme Ferrari beschränkt seine Darstellungen des unausweichlich scheinenden Scheiterns nicht allein auf den individuellen Mikrokosmos, sondern auf dessen Konstanz sogar im Makrokosmos gesellschaftlich-politischer Entwicklungen. Marcel Antonetti wird Zeuge des schnellen Zusammenbruchs französischer Kolonialträume. André Degorce - der mit dem Werk Ferraris vertraute Leser kennt ihn aus seinem zuletzt erschienenen Roman "Und meine Seele ließ ich zurück" - der zweite Ehemann von Marcels Schwester, kämpft erfolglos gegen die französische Niederlage in Algerien.

Und genau hier erschließt sich dem Leser der Titel des Romans. "Predigt auf den Untergang Roms" ist, in Anlehnung an Augustinus, das Wissen um die Vergänglichkeit all dessen, was der Mensch in seiner existentiellen Beschränkung so gern, so verzweifelt und so beharrlich in der Verweigerung, im Beginn bereits das Ende zu antizipieren, als ewig betrachtet. "Die Welten vergehen von Finsternis zu Finsternis, eine nach der anderen, und so ruhmreich Rom auch sein möge, es gehört doch der Welt an und muss mit ihr untergehen."

Es liegt, trotz derbe zur Schau getragener Lebensfreude der Personen, eine latente Traurigkeit über dem Roman "Predigt auf den Untergang Roms", wie übrigens auch über dessen Vorgänger "Und meine Seele ließ ich zurück". Das Individuum in seinem letztendlichen Scheitern vor den unbestechlichen Augen einer anteilnahmslosen Geschichte ist das große Thema, vielleicht sogar das letzte Motiv europäischer Literatur.




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