Buchkritik -- Mérine Céco -- Die Leben unter deinem

Umschlagfoto, Buchkritik, Mérine Céco, Die Leben unter deinem, InKulturA Es ist für Céline kein geringer Schock, als ihre Tochter Anita beschließt, in das in den Augen der Mutter „gefährliche“ Land, ihr Herkunftsland, zu gehen, um dort für eine NGO tätig zu werden. Auf einmal bricht das von der Mutter sorgfältig gehütete Familiengeheimnis, eine Vergangenheit, vor der Céline ihre beiden Kinder schützen wollte, aus dem selbstgewählten Kerker des Verschweigens aus.

Die Familie lebt in Europa, in der „großen Metropole“. Die Eltern sind beruflich erfolgreich, Karl und Anita, die beiden fast erwachsenen Kinder, gehen den gewünschten Weg, doch ein Erlebnis Anitas, die während eines Urlaubs mit ihrem Freund bestürzt feststellt, dass auf einmal ihre Hautfarbe im Fokus der Aufmerksamkeit steht, bricht die sich als fragil herausstellende Familienruhe und sie beginnt ohne Wissen ihrer Mutter, ihren Wurzeln, ihrer Herkunft und ihrer wirklichen Familiengeschichte nachzuforschen.

„Die Leben unter deinem“ erzählt eine Familiengeschichte aus der Perspektive von Frauen, die Opfer männlicher Gewalt werden, diese jedoch unter dem Schleier kulturbedingter Verdrängung als Taten eines Dämons, im Roman ein Dorlis, bezeichnet wird und somit Schuld auf eine, vom Opfer nicht angreifbare, nicht hinterfragbare und nicht Schuld verortende Ebene hebt, die sich in der weiblichen Generationenfolge als Familienfluch, als Perpetuierung weiblicher Unterwerfung gegenüber virilen Macht- und Herrschaftsansprüchen darstellt.

Mam Nanette, die Ururgroßmutter Célines, die mit ihrem Halbbruder Kinder zeugte, legte damit, so jedenfalls sieht es das im Roman dargestellte lokale Kultur- und Identitätsverständnis, den Grundstein für den Fluch, der auf dieser Familie liegt und der sich unter anderem darin fortsetzte, dass Mam Georgina, Célines Großmutter, als 16-jähriges Mädchen vom Freund der Mutter vergewaltigt wurde und der Nachhall dieser Tat weit in die Gegenwart reicht und seine Schatten auf das Leben Célines wirft.

Céline ringt in ihrem Brief, den sie der bereits abgereisten Tochter nachsenden will, verzweifelt um die richtigen Worte. Sätze mit denen sie ihr langes Schweigen, ihre Furcht vor der Wahrheit und die Verleugnung ihrer eigenen Geschichte erklären kann und so werden die eigentlich nur für Anita gedachten Zeilen in Wirklichkeit zu einer Reflexion ihres eigenen Lebens und der späten Erkenntnis, dass weder die individuelle Vergangenheit vergessen noch die Herkunft ignoriert werden können.

Genealogie, die persönliche Abstammung ist ein mächtiger innerer Strom, dem niemand entkommen kann. Céline versucht es und ihr Leben in der „großen Metropole“ erscheint wie eine einzige Flucht. Obwohl sie alles unternimmt, um ihre Familiengeschichte zu ignorieren, sie aus ihrem Leben und dem ihrer Kinder auszublenden, reagiert ihr Körper und sie leidet immer wieder unter Schmerzen, deren Ursachen medizinisch nicht zu erklären sind.

Der Roman der martinikanischen Autorin Mérine Céco ist die Geschichte einer Frau und ihr Ringen um die Akzeptanz von Herkunft und Familiengeschichte. Um sich ihrer sicher zu sein, ist es unabdinglich, dass sich Céline ihrer Vergangenheit stellt.

So erschließt sich letztendlich auch der Titel der deutschen Übersetzung, denn jedes Leben ist eines, das sich aus denen ergibt, die vor uns gelebt wurden. Identität gelingt nur im Bewusstsein Generationen übergreifender Kontinuität.




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Veröffentlicht am 5. Mai 2020