Buchkritik -- Michael Dangl -- Orangen für Dostojewskij

Umschlagfoto, Buchkritik, Michael Dangl, Orangen für Dostojewskij , InKulturA Kein Plot ist für einen Schriftsteller verlockender als die Frage, „Was wäre gewesen wenn…?“. So bringt dieses, fulminant erzählt von Michael Dangl, fiktive Zusammentreffen von Fjodor M. Dostojewskij mit dem Komponisten Gioachino Rossini denn auch zwei Titanen der Musik- und Literaturgeschichte zusammen, lässt den hypochondrisch und leicht depressiv in Venedig, der letzten Station seiner Europareise, eintreffenden Dostojewskij auf den lebensfrohen 70-jährigen Rossini treffen.

Ungleicher könnten zwei Künstler nicht sein. Der außerhalb Russlands unbekannte Dichter leidet. Er leidet an sich selber, seiner unglücklichen Ehe und dem Gefühl schriftstellerischer Impotenz, da ihm nach einem Achtungserfolg in der Heimat weiterer Erfolg mangels Veröffentlichungen versagt blieb. Kurz vor der Exekution durch ein Erschießungskommando vom Zaren begnadigt, jedoch nach Sibirien verbannt, wird ihm später die literarische Verarbeitung seiner dortigen Erfahrungen und Begegnungen seinen schriftstellerischen Ruhm bringen.

Davon ist bei seiner Ankunft in Venedig noch nicht viel zu spüren. Missgelaunt steigt er aus dem Zug. Die Reise war beschwerlich, die Mitreisenden – besonders die Deutschen – eine Zumutung und am liebsten wäre er sofort wieder umgekehrt. Es ist heiß, laut und der Weg zur preiswerten Unterkunft gleicht einer Verfolgungsjagd, denn der Gepäckträger ist mehr als einen Schritt schneller als der Schriftsteller.

Auch in den nächsten Tagen ist Dostojewskij viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, als dass er die Schönheiten der Lagunenstadt zu genießen in der Lage sein würde, wozu die Sprachbarriere, er ist des Italienischen nicht mächtig, ihren Teil beiträgt. Als er seinen Aufenthalt in Venedig schon abbrechen will, trifft er auf Gioachino Rossini, ein üppiger Genussmensch, der das genaue Gegenteil des Schriftstellers darstellt.

Die Leserinnen und Leser dieses prachtvoll erzählten Romans tauchen ein in die lebhafte, bunte und mitunter stinkende Stadt, die auf Pfählen gebaut ist und die dem Wesen Dostojewskijs so fremd und unwirklich, oft oberflächlich, doch chaotisch und, den politischen Verhältnissen geschuldet, unübersichtlich vorkommt. Man ist mittendrin, wenn Rossini Feste feiert, labt sich an regionalen kulinarischen Spezialitäten, kann den Duft der Weine riechen und ist Zeuge des freudigen Treibens von Rossinis Gästen.

Russische Schwermut trifft auf italienische Lebensfreude, doch Dostojewskij, dem vom Komponisten angeboten wird, das Libretto einer Oper zu schreiben, bleibt, bis auf wenige Augenblicke seltsam unberührt, ist Zuschauer, ringt um die richtigen Worte und nichts deutet darauf hin, das er bald einer der größten Schriftsteller der Welt sein wird.

Ein pralles Panorama mit schwermütigen Einsprengseln, denn hinter der Fassade des Bonvivant Rossini kommt ein gealterter und melancholischer, auf ein Leben mit Höhe und Tiefen zurückblickender Musiker zum Vorschein, der um die Endlichkeit des Lebens weiß und darum das Heute mit einer bravourösen Energie feiert.

Michael Dangl nimmt sein Lesepublikum mit auf eine Reise zurück in die Zeit, in der Venedig noch nicht das Opfer der jährlichen Turnschuh- und Sandaleninvasion geworden ist, in der die Herren auch bei großer Hitze korrekt gekleidet waren, Musik und Tanz zum gemeinsamen Mahl unter Freunden dazugehörte und kein kostenpflichtiges Beiwerk touristischer Massenabfertigung.

Eine Fiktion? Natürlich, aber eine höchst gelungene. Gioachino Rossini hätte mit diesem Roman genug Stoff für eine weitere Oper gehabt.




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Veröffentlicht am 1. Februar 2021