Die Geschichte der Menschheit ist gekennzeichnet von Paradigmenwechseln. Ohne sie wäre die Entwicklung niemals vorangeschritten. Sie sind also größtenteils von eminent wichtiger Bedeutung. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen sich dieser Paradigmenwechsel als Nachteil für die Gesellschaft und den Staat auswirkt.

Eines der markanten Kennzeichen von Richtungswechseln in moralischer oder politischer Hinsicht ist ihre Langsamkeit. Historisch gesehen beginnt jeder Wechsel von Herrschaftslegitimation in kleinen, individuellen Zirkeln. Die französiche Revolution hätte ohne gedankliche Vorarbeit von Einzelnen niemals stattgefunden. Die Oktoberrevolution in Russland wäre ohne die Theorien von Karl Marx und ohne die Agitation von Lenin nicht in der Weise geschehen, wie wir sie kennen. Paradigmenwechsel finden statt, wenn sich das politische System nicht mehr mit den gesellschaftlichen Realitäten in Übereinstimmung befindet.

Der letzte Wechsel von politischen und moralischen Systemen war die großangelegte US-amerikanische Umerziehungskampagne nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Diese Umerziehung beschränkte sich jedoch nicht nur auf Deutschland, sondern jedem Land in amerikanischer Einflußsphäre wurde diese zweifelhafte Aufmerksamkeit zuteil. Das sich der amerikanische Einfluß nicht primär auf die Moral, sondern auf wirtschaftliche Belange auswirkte, sei hier nur am Rand erwähnt. Doch nicht alle Länder waren dazu bereit, sich dem amerikanischen Hegemoniestreben zu unterwerfen.

Der anti-amerikanische Protest war die Wurzel der deutschen 68`er Bewegung. Aus ihm und der verkrusteten, selbstzufriedenen damaligen deutschen Aussen- und Innenpolitik bezog sie ihr Potential. Eine innere Lähmung des gesamten gesellschaftlichen Lebens und eine bigotte Moral taten ihr übriges, um diesen Protest weiter anzuheizen. Aus dieser gesellschaftlichen Realität bezog die Studentenbewegung ihre Legitimation. In dieser und wirklich nur in dieser Beziehung war der Protest sogar angemessen.

Dieses Aufbegehren gegen starre gesellschaftliche Bedingungen und eine scheinheilige Moral wurde jedoch in dem Augenblick selbst zur Lüge, als es den ehemaligen studentischen Revolutionären gelang, ihren "Marsch durch die Institutionen" erfolgreich zu beenden und sich dafür mit Posten in politischen Parteien und sozialen Einrichtungen belohnten. Ein handlungsschwacher Staat mußte ohnmächtig zusehen, wie im Zuge einer Universitätsreform die nichts weniger als diesen Namen verdiente, hunderte von fachlich inkompetenten, dafür aber mit der richtigen politischen Einstellung ausgestatteten Personen zu Hochschullehrern gemacht wurden. (Die heutige Malaise der deutschen Universitäten beruht nicht zu einem kleinen Teil auf diesen Vorgängen. Es ist gerade dieser Personenkreis, der eine effektive Reform des Universitätswesens zu verhindern weiß). Die Wurzeln der Grünen Partei sind ebenfalls in diesem Milieu zu finden.

Doch der "Marsch durch die Institutionen" hatte seinen Preis. Die an ihm Teilnehmenden verloren die gesellschaftliche Realtität aus den Augen. Verbohrt und mit Ignoranz gegenüber den wirklichen Verhältnissen, begannen sie, ihre eigenen Vorstellungen von einem angeblich besseren politischen System durchzusetzen. Sympathisanten fanden sich schnell in Verlagslektoraten und Zeitungsredaktionen. (Seilschaften sind keine Erfindung der ehemaligen Stasimitarbeiter.)

Von hier aus, von den Universtäten die für die (ideologisch-konforme) Ausbildung des akademischen Nachwuchses sorgten, von politischen Gremien und von meinungsbildenden Medien wie Zeitungen und politischen Magazinen, also von den Schlüsselstellen jedes gesellschaftlichen Systems, begannen sie ihr, wie wir heute sehen können, verheerendes Wirken.

Als Ausgangspunkt ihre eigene Lebensgeschichte mit gescheiterten Eltern-Kind Beziehungen, führten sie nun vordergründig nicht mehr einen Kampf gegen ein real existierendes politsches System, sondern sie rächten sich an ihren Vätern, (egal ob Kriegsverbrecher oder nicht), indem sie mit Hilfe eines Rückgriffs auf den Nationalsozialismus das gesamte damalige System der Bundesrepublik als faschistisch deklarierten und auf diese Weise einen gesellschaftlichen Kampf begannen, der bis heute nur Verlierer kennt.

Unfähig zur Analyse der real geschehenen Veränderung der Gesellschaft, spielen sie unbewußt denjenigen Kreisen zu, die ein finanzielles Interese daran haben, die Diskussion über den Nationalsozialismus und die aus ihm resultierenden monetären Wiedergutmachungen nicht zu stoppen. Wohlgemerkt, über Vergangenheit wird immer diskutiert werden und jede Nation wird das auf ihre eigene Weise tun, aber Verganenheit hat auch den Vorteil, dass sie nämlich bereits vergangen ist.

Der letzte deutsche Aufklärer - Friedrich Nietzsche - fand dafür im Vorwort zu seiner zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung" treffende Worte:

"Gewiß, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutlosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen; aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt ebenso notwendig ist, als es schmerzlich sein mag.

Besser und deutlicher kann eines der Probleme aktueller, gesellschaftlich irrelavanter Politik nicht beschrieben werden.

Was diese Republik nötig hat, ist ein erneuter Paradigmenwechsel. Es ist wieder an der Zeit, die gesellschaftliche Realität mit dem politischen Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Zu lange schon sind politische Theorie und gesellschaftliche Wirklichkeit nicht deckungsgleich gewesen. Es gilt, größeren Schaden zu verhindern.