Buchkritik -- Adam Becker -- Was ist real?

Umschlagfoto, Buchkritik, Adam Becker, Was ist real?, InKulturA Ist Wissenschaft das rein empirische Streben nach Wissen und damit frei von individuellen Vorlieben, Leidenschaften, Persönlichkeitsstrukturen und Vorurteilen? Mitnichten, auch wenn das in der Öffentlichkeit dargestellte Selbtbild des Wissenschaftsbetriebs solches von sich behauptet.

Der Astrophysiker und Wissenschaftsautor Adam Becker erzählt eine andere Version dieser Geschichte, in der von konkurrierenden Persönlichkeiten, Erzählungen, Ressourcen und Motivationen gesprochen wird.

Oberflächlich betrachtet zeigt das Buch die verschiedenen und zum Teil gegensätzlichen Interpretationen der Quantenphysik, deren Theorie, wie der Autor es schreibt „ ..alles bestimmt, von der Zeit, die zum Kochen von Wasser benötigt wird, bis hin zum Funktionieren unserer Fernsehgeräte, Computer und Handys.“

Aber Beckers Buch ist keineswegs eine typische Wissenschaftsgeschichte, sondern des Autors neuartige Sicht auf die Wissenschaft, mit der er, unter Verwendung literarischer Referenzen, die Geschichte der Physik eher zu einem Drama umdeutet, als zu einer enzyklopädischen Darstellung des wissenschaftlichen Fortschritts.

Es ist der Kampf zwischen zwei Lagern der Physik, von denen eines (das Kopenhagener Lager von Niels Bohr und seine Gruppe junger Studenten) die Natur der Realität durch ihre Interpretation der Quantenphysik bestimmen wollte. Im anderen Lager hielten ein verärgerter Einstein und mehrere Dissidenten hartnäckig an ihre tradierten Denkweisen fest. Bohr und seine Schüler obsiegten aufgrund ihrer neuesten Erkenntnisse und ihres intellektuellen Charismas, während Einsteins Lager der Tradition verhaftet blieb.

Die Natur selbst ist, so Bohr, unbestimmt und zufällig. Es ist weniger so, dass wir nicht verstehen, was die Natur im kleinsten Maßstab tut, sondern vielmehr so, dass die Natur selbst nicht weiß, was sie tut, es sei denn, sie interagiert mit anderen Systemen, insbesondere mit einem Messgerät in einem Labor. Die Natur ist abhängig von der Beobachtung und ändert sich je nachdem, wie wir sie beobachten. So die Sicht der Dinge von Bohrs Gruppe.

Aber ist das wirklich so? Becker zeigt ein anderes Bild und argumentiert, dass es Bohrs starke Persönlichkeit und seine Ausstrahlung waren - unterstützt durch die beträchtliche finanzielle Unterstützung der dänischen Regierung -, die eine neue Generation von Wissenschaftlern ausbildete, die Bohrs Interpretation zum wissenschaftlichen Standard erhoben. Einstein hingegen war zurückhaltend und zog es vor, allein zu arbeiten. Da er weder ein Institut hinter sich wusste noch Studenten ausbildetete oder direkten Einfluss auf die formale Ausbildung der angehenden Physiker hatte, war sein Ansatz in Bezug auf die Physik etwas realistischer insofern, als dass die Quantenphysik unvollständig war und wir eines Tages die Details der Natur mit vollkommener Klarheit feststellen würden können.

Becker erzählt diese Geschichte wie ein dramatisches Theaterstück und erweckt diese Persönlichkeiten zum Leben. Er beleuchtet die Einflüsse, die Bohrs Geschichte der Physik vorangetrieben haben. Wolfgang Pauli zum Beispiel, der Bohrs Interpretation mit selbst beißender Kritik vor Kritik schütze. "Es macht mir nichts aus, wenn Sie langsam denken", soll er zu einem Kollegen gesagt haben, "aber ich habe Einwände, wenn Sie schneller veröffentlichen, als Sie denken können." In einer anderen Abhandlung kritisiert er das Papier eines Physikers, indem er sagt: "Es ist nicht einmal falsch." Pauli, alias „der Zorn Gottes“, war maßgeblich an der Weiterentwicklung der Kopenhagener Interpretation beteiligt, die, so der Autor, nicht wirklich eine Interpretation ist. „Wie kann es eine Interpretation sein“, schreibt er, „wenn sich viele Physiker nicht einmal auf ihre zentralen Grundsätze und Behauptungen einigen?“

Ähnliche bissige Äußerungen des berühmten Caltech-Physikers Richard Feynman und anderer wehrten die Angriffe ab, die das, was Becker auf wahrhaft religiöse Weise als „die eine wahre Quantenphysik“ und die „Quantenorthodoxie“ bezeichnet, in Frage stellen würden. In den USA war Bohr in den 1950er Jahren „Gott und Oppie [Robert Oppenheimer] war sein Prophet“.

Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden „Quantendissidenten“, die Bohrs Lager herausforderten, wie David Bohm und Hugh Everett, von der Physikgemeinschaft angefeindet, ignoriert und herabgesetzt. Die Zugehörigkeit zu Bohm oder Everett bedeutete einen Karriereknick und Dissertationen, Papiere und Bücher, die die Quantenorthodoxie in Frage stellten, vermoderten an dunklen und staubigen Orten.

Die Geschichte der Physik ist also weit entfernt von einer einfachen Weiterentwicklung wissenschaftlicher Tatsachen. Es ist vielmehr ein dramatisches Stück voller großer Persönlichkeiten, großer Finanzmittel und gesicherter Karrieren. Mit anderen Worten, die Geschichte der Physik ist eine menschliche Geschichte wie jede andere.

Wer Ähnlichkeiten mit dem aktuellen (Corona)Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politk sieht, dürfte Beckers Fazit zustimmen.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 14. März 2021