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Buchkritik -- Christian Kracht -- Air

Umschlagfoto, Buchkritik, Christian Kracht, Air, InKulturA Paul ist der professionelle Kulissenschieber einer fantasielosen Immobilienwelt, der dann gerufen wird, wenn bereits steril wirksame Räume für zahlungskräftige Kaufinteressenten in Szene gesetzt werden müssen. Mit stoischer Akribie arrangiert er Mobiliar, optimiert Licht und Farbklang – bis die Inszenierung so perfekt ist, dass das Objekt in einem verkaufsfördernden Glanz steht . Hat der Deal erst einmal geklappt, räumt Paul die Kulissen wieder ab: Ein Theater ohne Spiel, dessen einziger Zweck das Erwecken einer Illusion ist.

Als Paul das verlockende Angebot eines mysteriösen, in Norwegen ansässigen Design-Magazins erhält, ahnt er kaum, wohin ihn der Auftrag führen wird. Er soll eine „immense dunkle Halle" in einem bestimmten, unheimlich reinen Weiß anstreichen. Die Reise endet nicht in einem herkömmlichen Ausstellungsraum, sondern in einem gigantischen Datenspeicher, in dessen gewaltigen Gängen das gesamte fotografische Gedächtnis der Menschheit ruht. Es ist eine Metapher für unsere Gegenwart: Wir präsentieren uns glanzvoll, während wir digital verschlüsselte Relikte anhäufen, deren Bedeutung wir kaum mehr verstehen.

Kaum hat Paul sein Werk begonnen, trifft eine verheerende elektromagnetische Strahlung die Erde und löscht augenblicklich jeden digitalen Abdruck unserer Existenz aus. Die technologischen Fundamente unserer Zivilisation zerstoben im Äther. Paul selbst verschwindet spurlos – nur um an einem Ort wieder aufzutauchen, der mit seiner Heimat nichts mehr gemein hat.

Er findet sich in einer Welt wieder, die wie aus einer anderen Dimension wirkt: archaisch, gefährlich und doch seltsam vertraut. Dort begegnet er dem neunjährigen Mädchen Ildr, das sich gerade anschickt, ein Reh zu erlegen. Statt des Wildes steckt ihr Pfeil plötzlich in Pauls Schulter. Wider Erwarten nimmt die Kleine den Fremden auf, versorgt seine Wunde und gewährt ihm Schutz in ihrer Hütte. Eine surreal anmutende Szene, die von der Unberechenbarkeit menschlicher Fürsorge erzählt.

Doch Paul ist ein gejagter Mann. Er trägt ein rätselhaftes weißes Pulver bei sich, das er auf unerklärliche Weise als Gegenmittel gegen eine tödliche Seuche erkennt. Ein finsterer Herzog, dessen Land von eben dieser Krankheit heimgesucht wurde, stellt ihm erbarmungslos nach, um das Pulver an sich zu reißen. So beginnt eine Odyssee durch eine nahezu lebensfeindliche Landschaft, in der die Rettung nur in der Solidarität erscheint.

In dieser kargen Welt begegnen Paul und Ildr einer Frau, die mit ihrem Stamm Zuflucht gefunden hat und das Leben der Beiden rettet. Parallel dazu taucht auch der wirr gewordene Herausgeber des Design-Magazins in dieser Anderswelt auf – ein Mann, den man in der modernen Metropole eher als Theateraufsteller denn als Abenteurer verortet hätte. Gemeinsam machen sie sich auf die Spur des unbestimmten Ziels: Wohin eigentlich? Wer sind sie? Und vor allem: Warum?

Christian Kracht lässt seine Leser auf all diese Fragen ohne eindeutige Antwort zurück. „Air" ist weniger eine abgeschlossene Erzählung als ein philosophischer Spiegel unseres exzessiven, illusionsverliebten Zeitalters. Ist der Roman ein Abgesang auf unsere verlogene Ästhetik, die uns von der wahren Substanz entfremdet hat? Oder eine kritische Endzeitvision, in der wir nach dem Verlust aller Digitalisate plötzlich wieder lernen müssen, das Echte zu begreifen? Vielleicht ist er gar der gezielte Reiz eines literarischen Denkanstoßes: Ein ironischer Kniefall vor Feuilletonisten, die fieberhaft nach einem Sinn in der Fiktion suchen.

Na dann, lassen wir den Autor zu Wort kommen: „Wohin ging es nur. Wer waren sie.“

Zweifelsohne wirft der Roman mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Und genau darin liegt wohl seine verstörende Intention.




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Veröffentlicht am 27. April 2025