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Buchkritik -- Nicolás Ferraro -- Ámbar

Umschlagfoto, Buchkritik, Nicolás Ferraro, Ámbar, InKulturA *„Du bist meine liebst Narbe“, sagt Papa und tätschelt die Stelle an seinem Unterarm, auf die er meinen Namen tätowiert hat: Á M B A R. Daneben zwei rote Hibiskusblüten, eine auf jeder Seite.*

Die Erzählerin dieses intensiven Geständnisses ist ein 15-jähriges Mädchen, dessen Leben von der unerbittlichen Härte staubiger Straßen, von den schmutzigen Ecken abgelegener Motels und von zahllosen einsamen Stunden geprägt ist. Ihre Mutter hat sie schon früh verlassen, und die Großmutter, die als letzte Hoffnung für eine liebevolle Erziehung fungieren sollte, verstarb unerwartet an einem Herzinfarkt. So blieb ihr einzig verbliebener Bezugspunkt ein Vater, der nicht nur als Verbrecher und kaltblütiger Killer bekannt ist, sondern sie seit ihrem neunten Lebensjahr – ob es ihm gefiel oder nicht – auf seine gefährlichen „Dienstreisen“ mitnahm.

Das Leben abseits jeglicher gesellschaftlicher Normen erwies sich als brutaler Lehrmeister: Von ihm lernte sie, Schuss- und Messerwunden eigenhändig zu versorgen, mit einer modifizierten, abgesägten Schrotflinte umzugehen und sie wurde dazu ausgebildet, als sein Wachposten und Fluchtfahrerin zu fungieren. Auch das Erstellen gefälschter Ausweise und das kunstvolle Verstecken in urbanen und ländlichen Landschaften gehörten zum täglichen Überlebenskampf.

„Als ich zwölf war, zeigte mir Papá, wie man Kugeln aus Körpern entfernt und Wunden mit eigenen Händen schließt. Mit dreizehn lernte ich, präzise zu schießen, und nur wenige Monate später wusste ich sogar, wie man ein Auto kurzschließt“, berichtet sie nüchtern und mit einer fast schon resignierten Gewissheit.

Ständig auf der Flucht, durchqueren sie gemeinsam das Land, und ihre Beziehung zueinander wirkt zunächst mehr zweckgebunden als emotional innig. Dennoch erkennt man in Papas rauer Art einen schiefen, aber tief empfundenen Beschützerinstinkt; er erhebt nie die Hand gegen seine Tochter, denn in dieser unwirtlichen Welt sind sie aufeinander angewiesen. Ámbar sehnt sich insgeheim danach, ein „normales“ Teenagerleben zu führen, zur Schule zu gehen, Freundinnen zu haben, in bunte Kleidung gehüllt zu sein, mit Make-up zu experimentieren, den ersten Kuss zu erleben und an Freitagabenden mit Freunden zu feiern, während sie gleichzeitig den festen Glauben an ein Zuhause in sich trägt. Gleichzeitig besteht eine zwiespältige, aber unerschütterliche Liebe und Loyalität zwischen ihr und ihrem Vater. Oftmals spürt sie mehr Angst um ihn als um sich selbst.

Inzwischen befinden sie sich erneut auf der Flucht, diesmal auf einem blutigen Rache-Roadtrip quer durch Argentinien. Papá behauptet, sie rächen den Mord an seinem besten Freund und einen gescheiterten Mordanschlag auf sein eigenes Leben. Die Handlung entfaltet sich an unterschiedlich definierten Orten in Argentinien: Einige dieser Schauplätze sind als direkte Stationen ihrer aktuellen Flucht zu erkennen, andere tauchen als schmerzliche Erinnerungen auf, während wieder andere in vagen Andeutungen bleiben und so das Gefühl verstärken, dass selbst die geographischen Grenzen für Ámbar verschwimmen. Ein Sinnbild für das Fehlen eines wahren Zuhauses.

Die zeitliche Einordnung der Geschichte bleibt ebenso diffus wie die Schauplätze selbst. Statt klarer Datumsangaben offenbaren sich Hinweise durch sorgfältig zusammengestellte Mixtapes, Playlists und kulturelle Ereignisse wie der Karneval und sogar durch den Verweis auf ein globales Ereignis, die dramatische Explosion des Space Shuttle Columbia beim Wiedereintritt, das als Symbol für den unwiderruflichen Bruch mit der Vergangenheit dient.

Im Verlauf dieser von Dunkelheit und Rache geprägten Flucht, die zugleich als Suche nach Vergeltung dient, entwickelt sich Ámbar von der bloßen Tochter zu einer wahren Partnerin, Helferin und Komplizin ihres Vaters. Doch wie jede epische Reise enthüllt auch diese eine tiefere, innere Odyssee. Ámbar wird sich auf dem Weg der Selbstfindung mit fundamentalen Fragen über Identität, Moral und den Preis der Loyalität auseinandersetzen. Allmählich wird sie die Welt, in der ihr Vater agiert, mit anderen Augen sehen: Eine Welt, die sie einst als ferne, fast schon surreale Realität empfand und von der sie glaubte, sich schon längst davon distanziert zu haben. Doch nun steht sie vor der unumgänglichen Erkenntnis, dass sie eine Entscheidung treffen muss – über ihr eigenes Schicksal und die Zukunft ihres verworrenen Lebens.

Aus der eindringlichen Perspektive dieser jungen Protagonistin erleben wir eine Erzählung, die in rasendem Tempo zwischen brutaler Gewalt, tief empfundenem Verrat und zärtlicher familiärer Verbundenheit oszilliert. Ámbar offenbart uns durch ihre individuellen, scharfsinnigen Beobachtungen eine Welt des Verbrechens, die zugleich roh, ungeschliffen und wild ist, aber auch auf eine paradoxe Weise berührend und fast schon schön in ihrer ungestümen Echtheit.




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Veröffentlicht am 28. März 2025