Buchkritik -- Dieter Borchmeyer -- Was ist deutsch?

Umschlagfoto, Buchkritik, Dieter Borchmeyer,  Was ist deutsch? , InKulturA Sie, die Deutschen, hatten und haben es immer noch schwer, stellen sie die Frage nach der nationalen Identität und was es ausmacht, dieses spezifisch Deutsche, was dieses Land von anderen unterscheidet. Dabei reicht der Bogen von einem pervertierten Nationalismus, dessen Folgen hinlänglich bekannt sind, bis zu einem, zieht man denn Vergleiche mit anderen Nationen, blinden Selbsthass, der jegliches Deutschsein aus der Geschichte, aus der Gegenwart und Zukunft eliminieren will.

Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation war, so Dieter Borchmeyer in seiner groß angelegten Untersuchung, niemals unkompliziert. Taumelnd zwischen den Extremen, war ein Mittelweg stets undenkbar und die Frage nach dem deutschen Wesen oszillierte ständig zwischen den Polen Ablehnung und hochgradigem Pathos.

Deutschland, in der Mitte Europas, war im Lauf seiner Geschichte das bevorzugte militärische Aufmarschgebiet seiner Nachbarstaaten. Das Trauma des 30-jährigen Krieges, dessen Schlachtfelder vorwiegend auf deutschen Terrain lagen, die Zersplitterung in kleine und kleinste Fürstentümer und das Fehlen eines Nationalmythos machten aus Deutschland eine "verspätete Nation", die, wie Hölderlin es ausdrückte, "tatenarm und gedankenvoll" daherkommt.

"Was ist deutsch" so der Titel und die Frage des Buches. Der Autor enthält sich einer Beantwortung und lässt anstelle dessen den Zeitgeist, verkörpert u. a. durch Hegel, Fichte, Goethe, Schiller, Bloch, Walser, und immer wieder Thomas Mann und Richard Wagner, sprechen. "Die Suche einer Nation nach sich selbst", so der Untertitel des Buches, begann, da das zersplitterte Deutschland, im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarländern, keine Metropole besaß, die die künstlerischen und wissenschaftlichen, aber auch politischen Kräfte bündelte, in Weimar, also, gemessen an den Deutschland umgebenden Staaten, in der Provinz.

So ist es kein Wunder, dass sich gerade aus dem politischen Kleinklein eine geistige Welt herauskristallisierte, die nichts weniger als Weltgeltung forderte. Deutsche Dichtung, deutsche Musik und, vor allem anderen, deutsche Philosophie standen dann auch in einem diametral angelegten Kontrast zum realen politischen Einfluss.

Ein Kapitel widmet der Autor dem Verhältnis zwischen Deutschtum und Judentum, das gerade durch die vage definierte Staatlichkeit Deutschlands Chancen für gebildete Juden ergab, die durch die Nationalsozialisten brutal zunichte gemacht wurden.

Vielleicht, so das Fazit des Lesers, kann die Frage "Was ist deutsch" gar nicht abschließend beantwortet werden. Nationale Stereotypen wie Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe und Treue - deren negative Konnotation Borchmeyer deutlich macht - verengen den Blick und reduzieren, wie die Geschichte beweist, das Verhältnis zu anderen Nationen.

So waren sich sowohl Nietzsche - "Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen" - als auch Goethe und Schiller - "Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hoffet es, Deutsche, vergebens / Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menschen Euch aus" - einig, dass der blinde Nationalismus und die geistige Nabelschau eine Sackgasse für die Deutschen sei. Nichtsdestoweniger sind sie im 20. Jahrhundert zweimal diesen Weg gegangen.




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Veröffentlicht am 23. April 2017