Buchkritik -- Pierre Chazal -- So etwas wie Familie

Umschlagfoto, Pierre Chazal  --  So etwas wie Familie, InKulturA Seit sich das grüne Welt- und Menschenbild die Deutungshoheit wesentlicher, die Gesellschaft betreffend, Kernpunkte angemaßt hat, besteht einer dieser Punkte darin, die biologische Familie - Mutter, Vater, Kinder - zugunsten der hohlen Phrase "Familie ist dort, wo Kinder sind" aufzulösen. Diesem aktuellen pädagogischen Mainstream folgend, erklärt sich wohl auch der überraschende Erfolg des Romans "So etwas wie Familie" von Pierre Chazal.

Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Bevor die drogenabhängige Hélène Selbstmord begeht, bitte sie ihren Freund Pierre, für ihren Sohn Marcus zu sorgen. Widerstrebend sagt Pierre zu, wohl wissend, dass er damit eine große Verantwortung übernimmt und sein Leben sich verändern wird. Natürlich helfen ihm seine Freunde, die, wie Pierre, alle in prekären Verhältnissen leben, dies jedoch, Chazal ist ein charmanter Erzähler, mit viel Herzenswärme und angewandter Emotionalität wettmachen.

Der Leser bekommt, jedenfalls im ersten Teil des Romans, genau das, was er erwartet hat; eine manchmal berührende, manchmal komische, jedenfalls immer zu Herzen gehende Geschichte. Nun ja, das oder ähnliches hat man auch schon an anderer Stelle gelesen. In dem Augenblick, als der Roman in Kitsch und Sentimentalität abzugleiten droht, zieht Chazal die Notbremse und erzählt mit einer abrupten Wendung die Geschichte aus einer vollkommen anderen Perspektive.

Der Leser findet Pierre auf einmal im Gefängnis wieder und lange Zeit ist unklar, aus welchem Grund er sich in Untersuchungshaft befindet. Seine Tage sind gefühlt endlos lang und er muss sich an die Hierarchie des Knasts anpassen oder untergehen. Erst langsam, ganz zum Schluss des Romans, erfährt der Leser die tragischen Abläufe, die Pierre in Haft gebracht haben. Hier stellt Chazal sein erzählerisches Können einmal mehr unter Beweis, indem er vor den Augen des Lesers eine konfliktreiche Vater-Sohn Beziehung schildert, die, wiederum hervorragend beschrieben, endlich klärt, warum Pierre sich so liebevoll um Marcus kümmert.

"So etwas wie Familie" ist trotzdem ein typischer Roman des aktuellen Zeitgeists, der, trotz aller erzählerischen Finessen, schamlos Klischees, vor allem neo-pädagogische, bedient und damit sein angestrebtes Lesepublikum verzücken dürfte.




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Veröffentlicht am 28. Dezember 2015