Buchkritik -- Josef Brainin -- Der Staubleser

Umschlagfoto, Josef Brainin, Der Staubleser "...denn du bist Staub und kehrst wieder zum Staub zurück!" Dieser Spruch aus Genesis 3,19 hat für Alfred eine besondere Bedeutung, denn er hat sich im Laufe seines Berufslebens die Fähigkeit erworben, aus den Resten dessen, was von einem Menschenleben nach dem Tod übrig bleibt, eben dieses Leben nachvollziehen zu können.

Alfred ist ein Wiener Antiquitätenhändler und damit auch derjenige, zu dessen Unternehmungen es gehört, die Hinterlassenschaften verstorbener Menschen zu entsorgen. Er hat sich überaus kommod eingerichtet in seiner Existenz inmitten schöner Dinge. Das Geschäft läuft erfolgreich und er ist in Kreisen der gehobenen Wiener Bürgerlichkeit eine gern gesehener und oft zu Rate gezogener Fachmann. Nicht zuletzt sein gewinnbringend eingesetztes individuelles Humankapital, seine Freundlichkeit, seine Zurückhaltung und seine Kunst- und Antiquitätenkenntnisse machen aus ihm einen gefragten Mann.

Eines Tages stellt ihm das Leben jedoch eine Falle und er beginnt ein Verhältnis mit der Frau eines wohlhabenden und bestens in der Wiener Gesellschaft vernetzten Unternehmers. Bei einem Empfang lernt er dessen Tochter kennen und verliebt sich in sie. Als deren Mutter - seine Geliebte - davon erfährt, muss Alfred erfahren, dass der ihm entgegengebrachte Respekt zerbröselt wie eine bröckelige Fassade, denn die enttäuschte Geliebte lanciert in der Wiener Gesellschaft die jüdische Abstammung Alfreds.

Als sich auch noch seine große Liebe von ihm abwendet, soll für ihn nichts mehr so sein wie vorher. Da zwingt ihn der Besuch einer alten Dame und deren Wunsch bezüglich der Wiederbeschaffung eines Gemäldes, das anlässlich der Arisierung durch die Nationalsozialisten verschwunden ist, dazu, sich mit der Vergangenheit, auch seiner eigenen, zu beschäftigen.

"Der Staubleser" von Josef Brainin ist ein Roman über eine österreichische Vergangenheit, die auf einmal wieder zum Vorschein kommt. Unter dem Mantel des Hochanständigen und einer offensiv demonstrierten Weltläufigkeit gären alte, für Alfred längst überwunden geglaubte Vorurteile und Ressentiments.

Die Suche nach dem verschollenen Gemälde wirbelt in der Tat Staub auf und vorbei ist es mit dem Wiener Charme. Je näher Alfred dem Gemälde kommt, desto größer wird die bürgerliche Empörung darüber, dass ausgerechnet ein Jude es wagt, an den großangelegten Kunstraub der Nazis zu erinnern.

Der Leser wird Zeuge, wie sehr Josef Brainin seinen Protagonisten im Verlauf der Handlung einer großen mentalen Veränderung unterwirft. Anfänglich einer der Stillen im Land und außerhalb seines privaten und beruflichen Umfeldes, in dem er in Bezug auf schöne Frauen nicht immer eine strenge Trennung vornimmt, eher zurückgezogen lebend, bezieht Alfred im Verlauf der Suche auf einmal Stellung und wagt es, sich mit den Wiener Honoratioren anzulegen. Natürlich riskiert er damit ein Echo, das auch nicht lange auf sich warten lässt.

Wer historischen Staub aufwirbelt, wer Dinge ans Tageslicht bringt, die die "gute" Gesellschaft lieber unter den Teppich gekehrt wissen möchte, dem drohen Konsequenzen. Alfred, eigentlich ein Ästhet, der sich ansonsten ungern mit den Anderen gemein machen möchte, findet sich auf einmal mitten im richtigen Leben wieder. Und dort sprechen weniger die Dinge zu ihm, als vielmehr die Stützen der Gesellschaft mit einer auf einmal gar nicht mehr feinen Diktion. Doch was die von ihm fordern, ist er nicht bereit zu leisten. Alfred, der Sohn aus einer jüdischen Familie wird nicht mehr schweigen.

Interessant ist die Tatsache, dass Alfred, der an sich und andere hohe ethische Ansprüche stellt, diesen selbstgewählten Richtlinien auf der Suche nach dem Gemälde und in den sich daraus ergebenden Konsequenzen im Umgang mit der Wiener Gesellschaft jedoch sukzessive nicht mehr folgen kann. Ob "Der Staubleser" sich dessen bewusst ist?




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