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Buchkritik -- Anna Enquist -- Die Seilspringerin

Umschlagfoto, Buchkritik, Anna Enquist, Die Seilspringerin, InKulturA Das Buch beginnt mit einer Demontage. Das Wandrelief eines Mädchens an einer Wand der Haagseveer-Polizeistation in Rotterdam, das Seil springt, wird samt Gebäude und allem abgerissen.

Eine Frau, Alice Augustus, sieht das Video des Ereignisses auf ihrem Computer und ist zutiefst betroffen. Der Grund dafür wird schnell klar. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ein eigenes Kind zu haben. In dem seilspringenden Mädchen sieht sie sozusagen ihre eigene Tochter und damit eine Wiedergeburt ihres eigenen Selbst, allerdings unter besseren Umständen.

Sie wuchs mit einem Vater auf, der sich nicht um sie kümmerte, und einer Mutter, von der sie keine Liebe und Zuwendung erfuhr. Infolgedessen hat Alice ein Selbstbild entwickelt, dass sie immer hinter den Erwartungen zurückbleibt und nie gut genug ist. Kein Therapeut kann Alice klarmachen, dass man nicht sein ganzes Leben lang seinen Eltern die Schuld geben kann.

Alice fühlte sich schon als Kind wie eine Außenseiterin. „Ich kann mich einfach nicht irgendwo zu Hause fühlen. Unfähigkeit. Das Elternhaus, diese blonden Holzmöbel, die ästhetisch ansprechende Einrichtung, durch die sie sich wie ein unerwünschter Gast bewegte. Ich habe es nicht verstanden.“ Am Konservatorium war sie als Komponistin eine Außenseiterin. Während des Unterrichts sagte sie nicht viel. Sie hat dort keine Freunde gefunden. Sie lebte eine Zeit lang mit ihrer Freundin Svea zusammen. Svea wurde schon in jungen Jahren Mutter und diese Rolle scheint für sie geschaffen zu sein. Alice fühlt sich in ihrem sympathisch chaotischen Haus voller Kinder nicht immer wohl.

Während sie sich einerseits als gescheiterte Person sieht, kann sie andererseits nicht leugnen, dass sie eine gefeierte Komponistin geworden ist, die aber verschweigt, dass sie ihre größten Einkommen mit dem Komponieren von Werbejingles verdient. Das Komponieren ist für sie eine existenzielle Notwendigkeit, ein Kind jedoch nicht. Ständig wird ihr gesagt, dass ein Kind das Ende ihrer Karriere bedeuten würde, aber ist man als Frau überhaupt etwas wert, wenn man kein Kind hat? Aus diesem Grund stehen ihr Kopf und ihr Körper ständig im Konflikt miteinander.

Ein weiteres Thema, das das Buch durchzieht, ist das Leben von Joseph Haydn. Alice denkt regelmäßig an ihn und vergleicht sich manchmal vorsichtig mit dem großen Komponisten. Sie versucht vor allem, sich in seine Situation hineinzuversetzen. Er war einen großen Teil seines Lebens von einem Gönner abhängig und kinderlos. Er konnte begeistert und sehr bewegt sein, nachdem er eine seiner Kompositionen aufgeführt hatte. Im Gegensatz zu Alice, die ihre musikalischen Triumphe eher mit Verlegenheit hinnimmt.

Ihre erste Beziehung scheiterte, denn der Mann ging wegen eines guten Jobs nach Kanada. Der nächste Mann in ihrem Leben ist ihr viel älterer Lehrer, der aber nicht damit umgehen kann, als sich herausstellt, dass sie von ihm schwanger ist. Bevor sie aus eigenem Antrieb eine Abtreibung vornehmen lässt, erleidet sie eine Fehlgeburt.

Schließlich heiratet sie Marc und die beiden führen eine Ehe, die jedem Partner viel Freiheit gewährt. Auch damit kommt Alice nicht immer klar, denn sie ist sich nicht sicher, ob dahinter Desinteresse seitens Marc steckt. Auch der Kinderwunsch erfüllt sich vorerst nicht, trotz vieler medizinisch unterstützter Versuche.

Während der Lektüre ist man mehr als einmal in Versuchung der Protagonistin zuzurufen, dass sie ihr Leben fern von Schuldzuweisungen an Dritte auf die Reihe bekommt soll. Es wird ein Desiderat bleiben.

Schließlich wird sie doch noch schwanger, aber gerade das wirft weitere Fragen auf, deren Beantwortung der Phantasie der Leserinnen und Leser obliegt.




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Veröffentlicht am 19. Mai 2024