Buchkritik -- Katja Kullmann -- Echtleben

Umschlagfoto  -- Katja Kullmann  --  Echtleben Früher war alles einfacher. Nach dem Schulbesuch winkte bereits eine Lehrstelle mit anschließender Festanstellung bis zum Eintritt des Rentenalters und das Universitätsdiplom war die Garantie für einen, ebenfalls langjährigen und gut dotierten Beruf. Die Zeiten sind lange vorbei.

Heutzutage ist es für eine große Gruppe von Menschen anscheinend bereits "kompliziert, eine Haltung zu haben". Das behauptet jedenfalls die Autorin Katja Kullmann in ihrem Buch Echtleben. 1970 in Hessen geboren, war sie Teilnehmerin am "Du kannst werden, was Du willst" Mythos, der nicht nur von den verbeamteten C-4 Universitätsprofessoren verbreitet wurde, sondern auch das wirtschaftliche und politische Credo der damaligen Funktionseliten dieses Landes war.

Begriffe wie Selbstverwirklichung, selbst bestimmtes Leben und Arbeiten, flexible Arbeitszeiten, Vereinbarkeit von Leben, Familie, Eigeninteresse und Arbeit, und weitere Schlagwörter, die je nach Belieben ersetz- und austauschbar waren durch die sozialbefindliche Gleichschaltung eines Aufbruchs des Wohlfühlens, haben sich als hohle Phrasen erwiesen, von denen sich aber die freigestellten Bewohner des Planeten Outsource nicht, oder nur schwer trennen wollen.

Nach nunmehr drei großen wirtschaftlichen Krisen - Crash des Dotcom Booms, Platzen der Immobilienblase und die aktuelle Finanz- und Bankenkrise, ist die Welt der "Ich will meine Arbeit selbst bestimmen" Fraktion in eine große Unruhe geraten. Nach der Phase einer vermeintlichen Freiheit von den Zwängen der Herkunft und der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs auch für "Arbeiterkinder" unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern, ist eine Ernüchterung eingetreten, die sich in der von Katja Kullmann so großartig beschriebenen Suche nach einer Haltung manifestiert.

Die Zeit der vermeintlich unbeschränkten Möglichkeiten ist vorbei. Jetzt gilt es nur noch, einen Job zu haben, um das Geld zu verdienen, mit dem man sich die Abgrenzung von den Anderen, den nicht so gut Aufgestellten, den Verlierern der Rallye der Selbstbestimmung, erlauben kann. Die Autorin hat durchaus recht mit ihrer Behauptung, dass es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben. Lebensentwürfe liegen in Trümmern. Biographien erscheinen als mehrfach gebrochen. Das Motto lebenslanges Lernen hat sich als dermaßen gnadenlos wahr erwiesen, dass schon mal dem ehemaligen Festangestellten und jetzigem "Freien" - frei auch von regelmäßigem Geldeingang - Grafikdesigner von der Agentur für Arbeit nahe gelegt wird, einen Taxischein zu machen, um sein Einkommen ohne staatliche Unterstützung zu erzielen.

Katja Kullmann hat mit Echtleben ein Buch über die Befindlichkeit der Generation, die den postulierten Traum der 68er leben wollte und dabei so grandios gescheitert ist, geschrieben. Ohne Larmoyanz, dafür mit viel Gespür für die täglichen Überlebenskämpfe und -krämpfe, schildert sie den Alltag derjenigen, die schmerzhaft einsehen müssen, dass "von der Utopie einer pluralisierten, durchmischten, offenen Gesellschaft (Karl Popper) ... nicht viel übrig geblieben ist." Diese einleitenden Worte der Autorin sind gleichfalls die Quintessenz ihrer Zustandsbeschreibung einer Generation, die, obwohl sie alles vermeintlich Richtige getan hat, in der bizarren Falle namens Realität steckt. Bestens ausgebildet, polyglott, weltgewandt und urban, stellt man fest, dass es die Traumjobs mit Selbstbestimmung und freier Zeiteinteilung nach der anfänglichen und inzwischen längst auf dem Friedhof der Wirtschaftsgeschichte ruhenden Dotcom Hype nicht mehr gibt. Die folgenden Finanzkrisen haben ein Übriges dazu beigetragen, dass sich auf dem Planet Outsource immer mehr Opfern der Nuller Jahre ansiedeln mussten.

Die spektakuläre und mitreißende Werbung für ein (Berufs)Leben, das sich aufs Beste mit den individuellen Stärken und Vorlieben des Einzelnen kombinieren lässt, hat sich für die Meisten als bewusst inszenierte Täuschung erwiesen, die aktuell unter dem Begriff "freier Mitarbeiter" daherkommt und deren Tragweite noch nicht einmal mit dem alten, von Karl Marx in die Diskussion gebrachten Klassenkampfbegriff der "Entfremdung" beschrieben werden kann.

Der Kampf ums Überleben hat, so Katja Kullmann, längst begonnen und dieses Überleben gestaltet sich schwierig, wenn am Ende des Geldes noch so viel Monat vorhanden ist. Die Miete muss bezahlt werden, biologisch korrekte Lebensmittel gekauft und - ganz wichtig - die Statussymbole besserer Zeiten müssen gewahrt bleiben. Sogar im Fall des Absinkens auf Hartz IV wird noch Abgrenzungstheater gegen die "die da unten" gespielt.

Überhaupt spielt in diesen harten Zeiten, so Katja Kullmann, die Abgrenzung gegenüber denjenigen, die nicht von vermeintlichem Nutzen für die eigene Karriere oder den angesagten Lebensstil sind, eine große Rolle. Unsichere und prekäre Beschäftigungsverhältnisse auf der einen und die Glücklichen, die noch safe sind, driften unweigerlich auseinander. Finanziell sowieso, zusätzlich jedoch gehen auch wichtige Beziehungen verloren.

Echtleben von Katja Kullmann beschreibt mit viel schwarzem Humor eine Generation, die im Prinzip alles richtig gemacht hat. Das haben allerdings auch, um auf eine andere Gruppe von Opfern einer geplatzten "Blase" hinzuweisen, amerikanische Mittelstandsfamilien getan, die den Versprechungen von stetig wachsenden Renditen geglaubt haben und sich aufgrund dessen hoch verschuldet haben, um hochwertige Häuser zu erwerben und nach dem Ende des Immobilienbooms ihre Raten nicht zahlen konnten und gezwungen sind, ihr nunmehr nahezu wertloses Haus um jeden Preis zu verkaufen, um danach auf der Straße sitzen zu dürfen.

So schlimm geht es den von der Autorin beschriebenen Personen nicht, aber der auslösende Faktor war identisch. Man glaubte an seine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, was für sich allein betrachtet vollkommen in Ordnung schien. Allerdings haben die Betroffenen ihre Rechnung ohne die realen Machtverhältnisse gemacht. Eine Generation war schier berauscht von den Versprechungen seitens Wirtschaft und Politik und unterlag dem Irrtum, dass es genügen würde, seiner Individualität freien Lauf zu lassen um damit ein persönliches Utopia erschaffen zu können.

Katja Kullmann beschreibt pointiert das tragikomische Erwachen aus diesem Traum. Ihre Sympathie - und die des Lesers - steht aufseiten ihrer dargestellten Personen und doch kommt bei der Lektüre dieses überaus lesenswerten und informativen Buches Mitleid mit den Stellvertretern dieser Generation auf. So grandios und bar jedes Misstrauens gegenüber politischen und wirtschaftlichen Parolen haben sich lange keine Altersjahrgänge mehr hinters Licht führen lassen. Allein diese, von Leser als Warnung zu interpretierende Botschaft macht dieses gute Buch noch lesenswerter.




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