Buchkritik -- Jérôme Ferrari -- Und meine Seele ließ ich zurück

Umschlagfoto  -- Jérôme Ferrari Wir sind es gewohnt, in der Welt des Alltäglichen, in der man sich behaglich eingerichtet hat und deren Sphäre durch Konventionen, Regeln und Gesetze geschützt wird, einen absoluten Schutz, gleichsam einen Kokon gegen das Dunkle unseres Inneren zu besitzen, der uns für alle Zeiten vor dem Wahnsinn menschlicher Möglichkeiten schützen soll.

Der dünne Firnis, der über dem negativen Potential und den Abgründen dessen liegt, wozu Menschen fähig sind, nennen wir Zivilisation. Die große Hoffnung, an die sich die Individuen klammern, besteht darin, zu glauben, dass das Aufbrechen dieses oberflächlich angelegten Schutzes Ausnahmen sind. Wir sind jedoch klug oder erfahren genug, um zu wissen, dass der Mensch sich immer in der Gefahr befindet, seinen Kampf um die humane Seite seiner Existenz zu verlieren.

Jérôme Ferrari hat dieses Dilemma in seinem Buch Und meine Seele ließ ich zurück mit schonungsloser Radikalität beschrieben. Im Jahr 1957 treffen während des französischen Algerienkriegs drei Männer aufeinander. Zwei von ihnen sind Soldaten, die bereits zusammen in einem Gefangenenlager der Vietcong schwerer Folter unterzogen worden sind. Der Dritte ist Hadj Nacer, ein Mitglied der algerischen Widerstandsbewegung. Die erzählerischen Fronten scheinen geklärt zu sein. Zwei französische Offiziere und ein gefangen genommener Algerier.

Was allerdings Jérôme Ferrari aus dieser fatalen Dreiecksbeziehung, die so oder ähnlich bereits in vielen Kriegen stattgefunden haben dürfte, ist erzählerisch einzigartig. Während einer der Offiziere, Capitaine Degorce, sich krampfhaft am Glauben an die gerechte Sache, für die er kämpft, festhält, ist sein Untergebener ein desillusionierter und zynischer Mensch, der die Grenze zwischen Recht und Unrecht längst überschritten hat.

Ist sich Degorce noch bewusst, dass er in einer Welt gefangen ist, die die Regeln der Menschlichkeit außer Kraft gesetzt hat, diese jedoch nach Beendigung der Kampfhandlungen jederzeit wieder einsetzen kann, ist sein Untergebener Andreani bereits jenseits dessen, was umgangssprachlich als Zivilisation bezeichnet wird, angelangt. Hat Degorce in der Heimat noch eine Familie, vor der er sich in Anbetracht seiner militärischen Aktionen zu schämen beginnt, so ist Andreani ein entwurzelter Mensch, der seine einziges Lebensziel im Kampf und in brutaler Unterdrückung sieht.

Degorce hofft in Nacer einen Seelenverwandten zu besitzen, der ihm, in Anbetracht gegenseitigen Respekts unter Kämpfenden, für seine Taten, die er im Namen Frankreichs unternommen hat, Absolution erteilt. Indes ist die Realität eine andere. Nacer darf aus politischen Gründen nicht am Leben bleiben und Andreani tötet ihn während einer Gefangenenüberstellung.

Die Welt, in der sich die drei Männer gegenübergestellt sahen, kennt keine andere Lösung als Gewalt und Tod. Degorce, der sich gegen diese Erkenntnis noch verzweifelt wehrt, muss feststellen, wie er selber in den Bann dieser Spirale aus Hass und Verzweiflung gerät. Andreani hat niemals eine andere Welt kennengelernt und verachtet seinen Vorgesetzten wegen dessen Glauben an den Sinn des Krieges. Als der Capitaine vom Tod Nacers erfährt, weiß er, dass es auch für ihn keine Rückkehr in die Normalität des Friedens geben wird. Die Schuld wird nicht vergeben und das Geschehene kann nicht vergessen werden. "In jedem Menschen lebt das Gedächtnis der Menschheit fort.[...] Deshalb wird es auch kein Verzeihen geben". So beschreibt es Jérôme Ferrari in diesem Roman, der weit mehr ist, als nur ein fiktives Dokument des französischen Algerienkrieges. Er ist, kongenial übersetzt von Christian Ruzicska, eine Anklage gegen jeden Bruch der dünnen Decke, die wir Zivilisation nennen. Die Orte sind austauschbar. Vietnam, Irak, Afghanistan, Guantanamo. Die Bühnen tragen stets andere Namen. Das zur Aufführung gebrachte Stück ist jedoch immer dasselbe.

Und meine Seele ließ ich zurück ist ein Roman, dessen Dichte und Sprachmächtigkeit eine selten anzutreffende Einheit bilden und den Leser an dem Teil der menschlichen Existenz teilhaben lässt, den wir gerne vergessen würden, von dem wir jedoch immer wieder eingeholt werden.




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