Buchkritik -- Lyonel Trouillot -- Antoine des Gommiers

Umschlagfoto, Buchkritik, Lyonel Trouillot, Antoine des Gommiers, InKulturA Franky und Ti Tony, zwei extrem unterschiedliche, aber unzertrennliche Brüder, stehen im Mittelpunkt der Geschichte von Lyonel Trouillot. Tony ist ein Kämpfer, der mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt verdient und Franky ein Asthmatiker, der davon träumt, Schriftsteller zu werden. Vom Vater wissen sie nichts, weil ihre Mutter Antoinette ihnen stets nur vom Urgroßonkel Antoine, ein Wahrsager aus dem Dorf Les Gommiers, erzählt hat. Er war so bekannt, dass man ihn von überall her zurate zog. In den Erzählungen der Mutter war das Dorf Les Gommiers, in dem sie noch nie war, „ein wunderbarer Garten, das glücklichste Land der Menschen, in dem nur Glück wachsen würde“, und Antoine des Gommiers, „ihr rückwirkender Weihnachtsmann“ und „Schutz vor zu viele Warums.“

Antoinette klammert sich an ihre Träume und die Größe dieses mythischen Ursprungs. Sie hofft, am Ende beim Borlette zu gewinnen und so ihrem harten Dasein als Straßenverkäuferin zu entkommen. Sie interpretiert alle Zeichen und Botschaften, die ihr die Träume ihrer Meinung nach vermitteln und konsultiert einen Experten für Numerologie, der behauptet, ihr beim Lottogewinn zu helfen, der in Wahrheit jedoch nur versucht, sie in sein Bett zu bekommen.

Im Gegensatz zu seinem Bruder betrachtet Franky die Geschichten seiner Mutter als absolute Wahrheiten und beschließt, ihnen Substanz in einem Buch zu geben, in dem er Kapitel für Kapitel die Geschichte von Antoine des Gommiers erzählt. Der Roman baut im Prinzip auf zwei Erzählungen auf, die sich gegenseitig kontrapunktieren: die der Legende von Antoine des Gommiers und die des Lebens der beiden Brüder in der harten Realität der Menschen des „Korridors“, wie die Gassen des Viertels, in dem sie leben, genannt werden. Zwei Geschichten, zwei Autoren: Franky für die des weisen Wahrsagers und Ti Tony für die harte Realität der Menschen im von Armut, Gewalt und Langeweile geprägten Viertel.

Lyonel Trouillot spielt virtuos mit beiden Erzählungen. Als guter Schüler und Leser aller Bücher, die er ergattern kann, greift Franky die großen französischen Autoren in einer weiten, fließenden und farbenfrohen Sprache auf. Ti Tony ist da weitaus prosaischer. Bei ihm wird die Geschichte von „der dreckigen Stadt", wo "man als Gangster oder Hure geboren werden muss, um die Zeit der Jugend zu überdauern", zu einer knallharten Beschreibung seiner Lebenswelt.

Eine Welt, in der „wenn sich Umherirren und Gewalt um ein Stück Nacht streiten, die Gewalt immer siegt“. Eine Welt, in der Unglück ohne Vorwarnung passiert. Antoinette bricht zusammen und stirbt, als sie die Grand-Rue überquert, und bevor sie gerettet werden könnte, streiten sich Erwachsene und Kinder um den Müll, den sie in einem Behälter auf dem Kopf trug, um ihn zu verkaufen. Als Opfer eines Sturzes wird Franky seine Beine nicht mehr benutzen können und in einem Rollstuhl sitzend, lebenslang auf die Hilfe seines Bruders angewiesen sein.

Aber es ist auch eine Welt, in der Solidarität praktiziert wird. Neben Ti Tony und Franky gibt es Danilo, der seinen Vater ebenfalls nicht kannte. „Ein echtes Korridorgenie" und für Ti Tony ein Vorbild und gleichzeitig Komplize. Eines Tages schafft er es jedoch, einen Pass und ein Visum zu bekommen und besteigt ein Flugzeug, um nie wieder zurückzukehren. Da ist da Pépé, der Dummkopf, der zum Bandenführer aufgestiegen ist und sich nicht ohne seinen Leibwächter bewegt. Da ist auch noch Moïse, der Ti Tony in seiner Bank beschäftigt, die Lotterielose im Korridor verkauft. Er ist ein Einzelgänger, der sein Geld in viele kleine Unternehmen investiert hat, „viele Geheimnisse, die ihn an viele Menschen binden“ und Bekanntschaften mit allen Bandenführern und Unterführern pflegt. Außer Antoinette, der Mutter, und Doriane, einer jungen Prostituierten, die den zwei Brüdern kurz einen sexuellen Gefallen tut, treten die Frauen ausschließlich im Hintergrund auf. Der Korridor ist eine Männerwelt.

Auf den letzten Seiten des Buches werden die beiden Handlungsstränge verwoben und die losen Fäden miteinander verknüpft. Der Roman über die Geburt einer Legende, „die in den Slums lebt“, endet wie ein Märchen: Der Präsident der Historical Society willigt ein, Frankys Manuskript zu veröffentlichen. Freilich nur durch die handfeste Unterstützung durch Tonys resolute Freunde. Das Werk soll der erste Band in der Sammlung „Mythen und Legenden“ sein, denn Frankys Traum ist der von den einfachen Leuten, Lottoscheinverkäufern und kleinen Gaunern. „Es gibt Zeiten, in denen uns, den Leuten des Korridors, nur eine Fabel bleibt.“




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Veröffentlicht am 26. März 2023