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Manche Wegstrecken entfalten erst im Augenblick ihrer Abfahrt ihre eigentliche Bedeutung. Daniel Glattauers neuer Roman „In einem Zug“ führt dieses Phänomen auf den sanften Schienen zwischen Wien und München vor Augen. Eine einfache Zugfahrt verwandelt sich hier in einen Mikrokosmos menschlicher Begegnung, ein Abteil wird zum Schauplatz unverhoffter Intimität. Bereits nach wenigen Seiten zeichnet Glattauer die klassische Kulisse – quietschende Räder und vorbeiziehende Landschaft – so eindringlich, dass man die Reise beim Lesen förmlich miterlebt. Auch sein ruhiger Erzählton behält die vertraute Leichtigkeit, während er gleichzeitig in dieser einfachen Zugwelt vielschichtige Stimmungen einfängt.
Eduard Brünhofer, einst gefeierter Liebesromanautor, sitzt im Abteil dieses Zugs nach München. Sein letzter Roman ist mittlerweile fast dreizehn Jahre alt – eine hartnäckige Schreibblockade plagt ihn seit Langem. Er ist auf dem Weg zu einem eher unangenehmen Verlags-Termin, schließlich sitzt ein drängendes Manuskript (theoretisch) in den Startlöchern, das er längst hätte abliefern sollen. Der anfängliche Vorschuss liegt zwar gut verzinst an der heimischen Immobilienfront, doch vom ersehnten Bestseller fehlt noch jede Spur. Kein Wunder also, dass unser Protagonist angespannt und nervös ist und Smalltalk so gar nicht nach seinem Geschmack. Kaum hat der Zug Wien verlassen, schleicht sich jedoch die unausweichliche Frage der Frau gegenüber an sein Ohr: „Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?“
Die Frau hinter der Frage stellt sich als Catrin Meyr vor – eine Physiotherapeutin in der Lebensmitte mit feinem psychologischem Gespür. Ihr erstes Geständnis macht ihre Haltung deutlich: Sie hält nichts von stabilen Langzeitbeziehungen und findet romantische Idealvorstellungen allzu weltfremd. Damit liefert sie Brünhofer, der jahrzehntelang über die Liebe geschrieben hat, umgehend neue Denkanstöße. Was als scheinbar belangloser Smalltalk beginnt, entwickelt sich schnell zu einem spitzfindigen Schlagabtausch über Liebe, Partnerschaft und Leben im Alter. Catrin bohrt unaufhörlich nach, wie es um seine eigenen Beziehungen steht, er reagiert charmant, pointiert – und gelegentlich mit schelmischer Selbstironie. Glattauers Figuren agieren dabei mit so viel Witz und Feingefühl, dass sich ihr Dialog fast wie eine kleine Theateraufführung liest.
Draußen ziehen unterdessen Wiesen und Dörfer vorbei, doch im Abteil herrscht inzwischen geschäftiges Nachdenken. In der Begrenztheit des Wagons entsteht paradoxerweise neue Weite: Die geistreichen, philosophischen Wortwechsel wirken wie weit geöffnete Fenster in die Innenwelt der Protagonisten. Glattauers Feinsinn zeigt sich gerade in der Stille zwischen den Sätzen – man hört fast das leise Tappen der Räder auf den Schienen, während die Gesprächsfetzen sich mit dem gemütlichen Rhythmus der Reise vermengen. Aus dem scheinbar banalen Setting wird so ein Raum, in dem Nähe und Distanz sich in unerwarteter Weise vermischen.
Ganz zum Schluss wartet allerdings noch eine Überraschung: Kurz bevor der Zug in München einfährt, atmet Catrin tief ein und gesteht Brünhofer etwas, das das bisher Gesagte in ein neues Licht taucht. Diese unerwartete Wendung offenbart ein zuvor verborgenes Detail – ein winziges Puzzlestück, das jedoch ausreicht, um den gesamten Dialog in einem anderen Kontext zu lesen. Für den Leser entsteht dadurch eine neue Deutungsebene: Alles klingt plötzlich vertraut und doch verschoben, als hätte man ein kleines Geheimnis entschlüsselt. Die Pointe ist leichtfüßig, aber sie macht das Ende zu mehr als nur einer gewöhnlichen Zugfahrt.
So fügt sich „In einem Zug“ zu einem literarischen Vergnügen, das fast ganz aus dem unkomplizierten verbalen hin und her seiner Figuren gewonnen ist. Glattauers Tonfall bleibt gewohnt locker, durchsetzt von feiner Ironie und einer Prise Selbstironie, die dem Thema Liebe eine behagliche Leichtigkeit verleiht. Zwei Menschen in einem simplen Abteil gewinnen durch ihren dialogischen Schlagabtausch plötzlich an Größe und Charme. Man liest das Buch mühelos in einem Rutsch, genährt vom vertrauten Glattauer-Humor und der spürbaren Wertschätzung für seine Charaktere. Auch wenn „In einem Zug“ oberflächlich betrachtet nur von einer schlichten Plauderei handelt, erklingt seine Melodie noch lange nach dem Umblättern der letzten Seite.
„In einem Zug“ ist damit ein charmanter, leichtfüßiger Roman geworden, der Liebhaber feinsinniger Feuilleton-Unterhaltung ebenso zufriedenstellen dürfte wie alle, die eine gelungene Reiselektüre suchen. Daniel Glattauer erweist sich einmal mehr als einfühlsamer Chronist menschlicher Alltagsbefindlichkeiten: Humor, Herz und ein Hauch Philosophie zeichnen auch dieses Abteil auf Schienen aus. Am Ende steigt man mit einem Lächeln aus dem Buch, beglückt von der Erinnerung an ein kleines Abenteuer auf Gleisen und an ein Gespräch, das einen diesseits jeder großen Liebe für einen Moment nachdenklich zurücklässt.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 28. April 2025