Buchkritik -- José Saramago -- Kain

Umschlagfoto  -- José Saramago  --  Kain, InKulturA Das letzte Buch des 2010 verstorbenen portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago erscheint als Abrechnung eines bekennenden Atheisten mit Gott, dessen Verhältnis zu den Menschen der Autor in seinem Buch "Kain" als eine gegenseitiges Nichtverstehen bezeichnet. "Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Uneinigkeit mit Gott, weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn". So formuliert es Saramago und belegt damit die Intention seines Werkes in nuce.

Kain, der Brudermörder, wird von Gott auf eine Odyssee durch das Alte Testament geschickt. Lapidar und etwas respektlos ausgedrückt wird der erste Sohn von Adam und Eva auf eine, die Grenzen der Zeit und des Raumes überwindende Reise zu dem göttlichen Willkürtaten eines sich unversöhnlich und rachsüchtig gebenden Schöpfers geschickt. Er wird u. a. Zeuge der Vernichtung von Sodom und Gomorrha, der Zerstörung des Turms zu Babel und diverser anderer mordlüsterner Szenen des ersten Buchs der Bibel.

Man könnte an dieser Stelle darüber diskutieren, weshalb ein Schriftsteller wie Saramago zum Ende seines Lebens noch einmal eine Generalabrechunung mit Gott machen will, denn eigentlich dürfte dieser für einen Atheisten, als den sich der Autor immer bezeichnet hat, keine Thema mehr sein. So verwundert es doppelt, wenn Saramago das Alte Testament narrativ dekonstruiert und diesem Buch, das wie alle "Heiligen Schriften" aus einen Sammelsurium mündlicher Überlieferungen aus vorhistorischen Zeiten resultiert, einen realtheologischen Charakter attestiert.

Da ist doch die Aufklärung und die Geschichte der Kämpfe gegen religiöse Indoktrination und gegen den alleinseligmachenden Anspruch der Kirche wohl glatt am Autor vorbeigegegangen. Niemand würde im Ernst die Widersprüche und den überlieferten Wahnsinn anderer mythologischer Letztbegründungen als real verstehen und mit diesen eine "Generalabrechnung" machen. Man stelle sich einen "Jahresabschluss" mit Odin, dem Chef der nordischen Götterfamilie vor. Er, dessen Vorliebe für Trunk und Prügeleien bekannt ist, wird von einem Schriftsteller auf den Irrsinn seiner Handlungen hingewiesen. Das wäre, bei allem Respekt für José Saramago, an Lächerlichkeit nicht zu überbieten.

Es erweckt den Anschein, als wenn der Autor noch lange nicht mit Gott abgeschlossen hätte. Wäre das der Fall, dann hätte Saramago kein Wort über den angewandten Wahnsinn des Altes Testaments verloren. Zugegeben, seine Geschichte(n) sind launig und pointiert geschrieben. Doch das enthebt sie nicht der Kritik an der Auswahl ihres Sujets. In einer säkularisierten (westlichen) Welt sollte die Beschäftigung mit religiösen Mythen doch eher religions- oder philosophiegeschichtlichen Charakters sein. Eine, sie als real betrachtende Grundbedingungen menschlichen Glaubens, literarisch motivierte Auseinandersetzung mit dem, was einstmals als Gott bezeichnet worden ist, befindet sich noch im 18. Jahrhundert und vergisst oder leugnet en passant den aktuellen Stand der Dinge. Ob dieser jedoch der richtige ist, muss jeder für sich selber beantworten.

Es ist eine oft feststellbare Tatsache, dass sich gegen Ende des Lebens ein Individuum wieder an, oder, wie im Fall "Kain", gegen Gott wendet und persönliche Allmachtsphantasien sich gegen die Menschheit richten. Davor ist leider auch José Saramago nicht gefeit, denn sein Kain ermordet zum Schluss sämtliche Überlebenden der Sintflut. Seine Anklage gegen Gott ist in Wahrheit ein Vorwurf gegen alle diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, kein Problem mit "ihrem" Gott haben und die dazu in der Lage sind, die göttlichen Fehler zu verzeihen. Damit sind sie weiter als Saramago, dem in seinem letzten Roman nichts besseres einfällt, als die Vernichtung der Spezies Mensch.

Das ist eine erbärmliche Bunkermentalität, die keine Abweichung von der eigenen Anschauung duldet. Wäre Saramago der Atheist gewesen, für den er sich immer ausgegeben hat, dann wären ihm die religiösen Verirrungen und Abwege nur ein Lächeln wert gewesen. Anscheinend steckte hinter dieser Fassade nur Wut und Trauer gegenüber seinem eigenen Verhältnis zu Gott und den Menschen, für die der "Chef" des Alten Testaments eine ausschließlich mythische Figur ist. Hoffentlich konnte der große portugiesische Schriftsteller vor seinem Tod mit Gott und den Menschen Frieden schließen.




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