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Stephen Kings Roman „Kein Zurück‟ markiert nicht nur die Rückkehr einer bekannten Figur, sondern auch die Fortführung eines literarischen Experiments: die Verschmelzung eines psychologisch dichten Figurenporträts mit den Konventionen eines Thrillers. Im Zentrum steht erneut Holly Gibney, eine ebenso introvertierte wie hochsensible Privatdetektivin, deren stille Präsenz und innere Zerrissenheit bereits in früheren Werken des Autors beeindruckten. Hier ist sie nicht nur Ermittlerin, sondern auch Projektionsfläche für eine Gesellschaft, die zunehmend aus den Fugen gerät. Der Titel Kein Zurück wirkt wie ein Mantra, für die Protagonistin ebenso wie für die Leserinnen und Leser: Einmal konfrontiert mit dem Abgründigen, gibt es kein Zurück in die bequeme Unschuld.
King erzählt auf zwei ineinandergreifenden Handlungsebenen. Zum einen ist da die Untersuchung mehrerer Morde, bei denen ein Täter scheinbar wahllos „Stellvertreter“ für seine eigentlichen Zielpersonen auswählt, eine perfide Umkehrung des klassischen Serienmordnarrativs. Zum anderen begleitet der Roman Holly bei ihrem Versuch, eine feministische Autorin zu schützen, die von einem fanatisch-gläubigen, aber gesellschaftlich integrierten Mann verfolgt wird. Zwischen diesen beiden Strängen entfaltet sich eine Geschichte, die nicht nur Spannung erzeugt, sondern moralische Komplexität auslotet. Holly fungiert dabei als eine Art moralisches Seismograph, sie registriert feine Verschiebungen, ethische Graubereiche und menschliche Ambivalenz, lange bevor andere Figuren überhaupt ahnen, was sich unter der Oberfläche zusammenbraut.
Eine der bemerkenswertesten Leistungen des Romans liegt in der Ausgestaltung der Hauptfigur. Holly Gibney ist das genaue Gegenteil des allwissenden Detektivs. Sie leidet unter Zwängen, Ängsten und einem prekären Selbstbild. Ihre sozialen Unsicherheiten, ihre psychischen Narben, ihr ständiger Zweifel an sich selbst, all das macht sie nicht nur zu einer glaubwürdigen, sondern zu einer zutiefst berührenden Heldin. Sie ist nicht mutig im klassischen Sinne, sondern mutig im eigentlichen: Sie handelt, obwohl sie Angst hat. King gelingt es, aus ihrer Verletzlichkeit Stärke zu schöpfen. Holly ist eine Heldin des leisen Widerstands, jemand, der nicht mit der Welt ringt, sondern mit sich selbst, und gerade darin liegt ihre Größe.
Inhaltlich greift „Kein Zurück‟ aktuelle gesellschaftliche Verwerfungen auf: die grassierende Misogynie, die unterschätzte Bedrohung durch Online-Radikalisierung, die bequeme Doppelmoral jener, die sich hinter Masken religiöser oder moralischer Überlegenheit verstecken. King scheut sich nicht, den Finger auf diese wunden Punkte zu legen. Seine Darstellung ist unmissverständlich, oft schmerzhaft, aber nie plump. Er bietet keine simplen Lösungen, sondern zwingt zur Auseinandersetzung.
Dennoch ist der Roman nicht frei von Schwächen. Insbesondere die Darstellung der Antagonisten gerät streckenweise allzu überzeichnet. Ihre Frauenfeindlichkeit, ihr Fanatismus, ihre geistige Labilität, all das wird so pointiert gezeichnet, dass es zuweilen in die Karikatur kippt. Damit geht nicht nur psychologische Glaubwürdigkeit verloren, sondern auch jener subtile Horror, der sich gerade aus dem Alltäglichen speist. Der Kontrast zwischen Gut und Böse wird hier nicht immer aus der Ambivalenz heraus entwickelt, sondern mit dem Holzhammer gesetzt.
Auch stilistisch zeigt King einige seiner bekannten Schwächen. Sein Hang zur epischen Breite führt dazu, dass der Erzählfluss gelegentlich ins Stocken gerät. Es gibt Passagen, in denen die Spannung durch ausufernde Innenperspektiven oder nebensächliche Beobachtungen verwässert wird. Manche Nebenfiguren bleiben schemenhaft, sie sind dramaturgisch funktional, aber nicht als eigenständige Charaktere erfahrbar. Das ist schade, weil gerade in Kings besten Romanen auch die scheinbar unwichtigen Figuren Leben atmen.
Trotz dieser Einwände bleibt „Kein Zurück‟ ein bemerkenswerter Beitrag innerhalb von Kings Werk, nicht zuletzt, weil er sich traut, unbequem zu sein. Es ist ein Roman, der zeigt, dass der Kampf gegen das Böse kein Spektakel sein muss, sondern oft ein stiller, zäher Akt der inneren Aufrichtigkeit ist. Holly Gibney verkörpert diese Haltung auf eindrucksvolle Weise: Sie ist keine perfekte Figur, aber eine glaubwürdige, keine strahlende Heldin, sondern eine, deren Stärke sich aus der Fähigkeit speist, inmitten von Chaos die Orientierung nicht zu verlieren. In ihr hat King eine Figur geschaffen, die sich nicht in den Vordergrund drängt, aber bleibt. Und das macht neugierig auf alles, was noch folgen mag.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 24. Juni 2025