Buchkritik -- Dietrich Plückhahn -- Mein kleiner Verrat an der großen Sache

Umschlagfoto, Buchkritik, Dietrich Plückhahn, Mein kleiner Verrat an der großen Sache , InKulturA Die Weltrevolution ist dann doch ausgefallen. Dabei hat sich gerade in Berlin die Jugend- und Studentenbewegung der späten 1960er Jahre alle Mühe gegeben, die Arbeiter, das Proletariat davon zu überzeugen, dass sie ein falsches, von den Kräften des Kapitalismus manipuliertes Leben führen und dass nur die politische Avantgarde, natürlich links bis zum Abwinken, der Garant für eine neue, bessere, gerechtere und friedlichere Welt sorgen kann. Dumm nur, dass die von den, so gingen sie in die Geschichtsbücher ein, 68ern avisierte Zielgruppe, der politisch entmündigte und kapitalistisch ausgebeutete Arbeiter ausgerechnet diesen selbst ernannten Revolutionären den Stinkefinger zeigte.

Es waren turbulente Jahre in der damaligen Frontstadt Berlin. Geteilt in vier Sektoren, ab dem 13. August 1961 zweigeteilt in Ost- und West-Berlin - bereits die Schreibweise gab Auskunft über den politischen Standpunkt - war sie Schau- und Kampfplatz sektiererischer Politsekten, deren Ziel die Schaffung einer sozialistischen, am besten jedoch kommunistischen Gesellschaft war.

Berlin, auch das muss zum Verständnis gesagt werden, hatte gegenüber der Bundesrepublik einen Sonderstatus. Es gab keine Wehrpflicht und die im Rest der Republik übliche Sperrstunde in Bezug auf bewusstseinserweiternde Getränke galt nicht in dieser Stadt und es gab reichlich bezahlbaren Wohnraum. Keine Frage, dass, ähnlich wie heute, Berlin zum Magneten für allerlei Menschen mit Sonderbegabungen mutierte.

Dietrich Plückhahn wirft ein halbes Jahrhundert später einen Blick zurück auf seinen politischen Werdegang, die oft absurden ideologischen Verrenkungen der linken Szene und seine letztendliche Abkehr von der "großen Sache". In West-Berlin geboren und aufgewachsen, schildert er das alltägliche Leben in dieser Großstadt, das sich weder von den Lebensbedingungen noch den politischen Einstellungen der Mehrzahl der Bürger von denen anderer deutscher Städte unterschied.

Die (meisten) Menschen waren angesichts des zunehmenden Wohlstands zufrieden. Urlaubsreisen, das eigene Auto und bescheidener Luxus waren nicht mehr unmöglich und der Staat sorgte mit einer kräftigen Lohnsubvention (Berlinzulage) für mehr Netto im Portemonnaie. Ob dies die Gründe dafür waren, dass die linke politische Agitation im bürgerlicher Lager auf verständnisloses Achselzucken sorgte...?

Der Zeitzeuge Plückhahn lässt den Leser teilhaben an seiner politischen Entwicklung, die ihn zur Freien Deutschen Jugend Westberlins (FDJW) und damit letztendlich zur SEW, der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins führte. Es war eine an Merkwürdigkeiten und Absurditäten reiche Welt, die, immer die DDR und damit in Wirklichkeit die UdSSR als gesellschaftlich-politisches Vorbild, das System der Bundesrepublik radikal verändern wollte.

Es waren in der Mehrzahl, und das ist die eigentliche Ironie der Geschichte, Schüler und Studenten, die die linke Bewegung initiierten und sich, quasi als Jeunesse dorée anschickten, den Staat zu unterminieren und dabei bizarre Interpretationen der gesellschaftlichen Realität vornahmen um die Wirklichkeit an die Ideologie anzupassen. So waren es dann auch die zahlreich vorhandenen Widersprüche, die den Autor zu seinem "kleinen Verrat an der großen Sache" bewegten und er kokettiert dabei gerne mit dem frühen Verlust seines Augenlichts, das ihm, wie er es ausdrückt, "die richtige Sicht auf die Dinge" irgendwie verhinderte.

Dietrich Plückhahns Rückblick ist angesichts der aktuell zunehmenden Radikalisierung in allen politischen, gesellschaftlichen und religiösen Lagern von brisanter Relevanz, denn genau wie vor fünfzig Jahren steht das politische System aus vielen Richtungen unter Beschuss. Dass der Manipulation, der Verführbarkeit, dem Schwindel und des Mantras der "einfachen Lösungen" durch die sog. sozialen Medien Vorschub geleistet wird, ist evident. Heute wie damals ist der gesunde Menschenverstand anscheinend Mangelware.




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Veröffentlicht am 21. Juli 2018