Ein Januarabend in Bad Kissingen. Vom Himmel fällt feuchter Schnee und die Landschaft scheint sich vor dem ungemütlichen grauen Winterabend zu fürchten. Dunst bedeckt die sonst tagsüber so freundlichen Höhenzüge rund um den Kurort. Ich schaue aus dem Fenster und ein kalter Schauer erfasst mich. Kalt und abweisend liegt die winterliche Natur vor mir.

Da erinnerte ich mich eines Buches, das ich vor gar nicht allzulanger Zeit gelesen habe. Es war ein kleines Bändchen, kaum 80 Seiten stark. Doch der Inhalt entschädigte mehr als genug für die knappe Form. Für den heutzutage zu oft anzutreffenden oberflächlichen und stressgeplagten Leser gibt der Einband nicht viel her. Die Zeichnung eines Kurbrunnens im Kurpark und einige Spaziergänger. Ein hektischer Leser wird dieses Buch wohl auf den ersten Blick in die Rubrik Erbauungsliteratur einordnen und sich andere, vermeintlich aktuellere Bücher suchen.

Schade, den er hätte etwas versäumt. Ein kleines Buch, gefunden in einer kleinen Bibliothek eines Kurortes, verströmt beim Lesen die in der modernen Literatur schon längst verlorengegangene Güte und Menschlichkeit einer das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen akzeptierenden Schriftstellerin. Es soll die Rede sein von den kleinen Band "Kurbrunnen und Kurschatten" von Ingeborg Buddenböhmer.

Ich weiß nicht, ob dieses 1968 im Eugen Salzer Verlag erschienene Buch überhaupt noch im Buchhandel erhältlich ist. Ich denke jedoch eher nicht. Schade, denn diese wenigen Seiten zeigen eine dem Zeitgeist total entgegengesetzte Art und Weise das Leben zu betrachten. Basierend auf und geprägt von einer glücklichen und harmonischen Kindheit beschreibt die Autorin auf wenigen Seiten ihr bisheriges Leben. Die Schilderungen einer trotz kriegerischer Einwirkungen behüteten Kindheit münden in der Beschreibung eines sechswöchigen Kuraufenthaltes.

Was mich an diesem Büchlein so eigenartig berührte, war die tolerante Schilderung anderer Lebensstile und Lebensauffassungen. Nicht ausgehend von dem eigenen Ego, welches immer auf der Suche nach Selbstbestätigung und Selbstglorifizierung ist, sondern die Toleranz und die Akzeptanz des menschlich Anderen. Das Gegenüber wird nicht mit der Brille der Selbstbespiegelung betrachtet, sondern aufgeschlossen für die Unterschiede, die trotz aller gleichmacherischen Parolen schon immer existiert haben und auch immer weiter existieren werden, wird das menschliche Gegenüber als Individuum betrachtet, das eine Geschichte hat, deren Kulminationspunkt der jeweils aktuelle Augenblick ist.

Trotz vielfältig erlebten Leids sind die beschriebenen Menschen keine am Leben gescheiterten Existenzen, sondern in Akzeptanz ihres eigenen, ganz besonderen Schicksals bejahen sie ihre Dasein und sehen im Leben selber den eigentlichen Motor ihres Existens. Der Verlust von geliebten Menschen hinterläßt zwar seine Spuren, doch er führt nirgendwo zur Resignation oder Selbstaufgabe.

Die Bereitschaft sich gleichberechtigt neben den Anderen zu stellen und im Gegenzug den Anderen gleichberechtigt neben sich gelten zu lassen, ist trotz aller gegenteiliger Bekundungen heutzutage ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Egoismus und die daraus resultierende Egozentrik verhindern wirkliche Kommunikation. Der moderne Mensch gleicht einer Monade mit geschlossenen Fenstern. Auf sich selbst bezogen, hedonistisch-egoistisch ausgerichtet, fristet er sein trauriges Dasein. Seiner Isolation selbst nicht bewußt, hält er sich für das Nonplusultra der modernen Zeit und ihrer Lebensstile.

Von der Werbung eifrig hofiert, stellt er sich selber ins Zentrum des Daseins, nicht merkend, das er nur nach Melodien tanzt, die andere, einflußreiche Mächte spielen. Der moderne Individualismus kommt im Gewand der scheinbaren Freiheit einher. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich diese Freiheit als die Dressur durch geistig-politischen Mainstream. Wahre Freiheit liegt darin, wie Immanuel Kant es so treffend formulierte, den eigenen Verstand zu gebrauchen.

In diesem Sinn ist das Buch von Ingeborg Buddenböhmer ein Hinweis darauf, das es ein anderes, besseres Leben, ein harmonischeres Miteinander gibt, als es uns der aktuelle Mainstream erzählen will. Wer noch feine Ohren hat und ein noch feineres Gespür für mitmenschliche Zwischentöne und wer noch nicht ganz die Hoffnung auf eine Wiederherstellung menschlicher Kommunikation aufgegeben hat, ist der Leser den sich dieses Buch gewünscht und verdient hat.