Buchkritik -- Kettly Mars -- Wilde Zeiten

Umschlagfoto  -- Kettly Mars  --  Wilde Zeiten Wie weit kann oder muss jemand gehen, der eine ihm nahestehende Person aus dem Apparat einer politischen Diktatur befreien will? Kettly Mars, die wohl wichtigste Gegenwartsautorin Haitis, erzählt in ihrem neuen Buch Wilde Zeiten die Geschichte einer Frau und Mutter, die, um ihrem inhaftierten Mann zu helfen, eine Affäre mit einem an die Macht gespülten Staatssekretär beginnt. Es ist die Zeit der Duvalier-Diktatur, die Haiti während Sechzigerjahre in ein Chaos aus Willkür, Gewalt und Staatsterrorismus gestürzt hat.

Nirvah beginnt ein Verhältnis mit Raoul Vincent, einem politischen Emporkömmling und engen Mitarbeiter von "Papa Doc", dem haitianischen Diktator, der sich zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen lässt. Raoul benutzt skrupellos seine Macht, um sich in das Leben von Nirvah und ihrer Kinder zu drängen.

Glaubt sie anfänglich noch, ihrem Mann die Haftbedingungen zu erleichtern und in naher Zukunft seine Freiheit erwirken zu können, verschwimmt im Lauf der Zeit ihre persönliche Motivation zu einem eher opportunistischen Verhalten, dass für ihre Lebenssituation durchaus auch Vorteile bietet. Unter dem Schutz des Systems stehend, wird sie zu einer von ihrer Familie und Freunden beneideten Nutznießerin der Liaison mit dem zweitmächtigsten Mann Haitis.

Kettly Mars beschreibt den dramatischen Zwiespalt, in dem sich Nirvah befindet. Im naiven Glauben daran, ihren Ehemann durch die sexuelle Gefügigkeit gegenüber einem Mann des inneren politischen Zirkels behilflich zu sein, geht sie auf die drängenden Avancen des Staatssekretärs ein. Schnell muss sie allerdings erkennen, dass sie ihrem inhaftierten Mann nicht wirklich helfen kann, sondern nur ein Objekt für Raoul Vincent darstellt.

Eine Frau im Kraftfeld zwischen diktatorischer Willkür, individueller Hoffnung und politischer Ohnmacht. Die Autorin erzählt, manchmal sehr drastisch, den Weg von Nirvah, die sich, zuerst aus Verzweiflung, dann durchaus mit Gefallen an ihrer neuen Situation, immer tiefer in die Beziehung zum Staatssekretär stürzt. Was als Unterstützung für ihren Ehemann begann, entwickelt sich mehr und mehr zur Eigennützigkeit. Die ihr erwiesenen materiellen Vorteile üben auf sie eine verführerische Wirkung aus, auf die zu verzichten, sie nicht mehr gewillt ist.

Der Leser wird Zeuge, wie die Angst vor politischen Repressalien einen Menschen zu einem Werkzeug der sexuellen Willkür macht. Die Ambivalenz Nirvahs im Verhältnis zwischen Freiwilligkeit und Zwang und zwischen persönlicher Ohnmacht und der daraus resultierenden sexuellen Abhängigkeit, ist verstörend und wohl nur nachvollziehbar in der Projektion auf die Metaphern von Willkür und sexueller Ausbeutung.

Erst als Nirvah sich eingestehen muss, dass auch ihre Kinder zu Objekten und damit auch zu Opfern der Triebhaftigkeit von Raoul geworden sind, reagiert sie selbstbestimmt. Da jedoch der politische Einfluss des Staatssekretärs durch eine gegen ihn geführte Intrige schwindet, ist auch das Leben von Nirvah und ihren Kindern in Gefahr. Sie sind wieder der Willkür der haitianischen Diktatur ausgesetzt.

Wilde Zeiten von Kettly Mars ist nur vordergründig eine Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte Haitis. Es ist vielmehr eine Parabel über die Verführbarkeit des Menschen im Angesicht von Tyrannei und Despotismus. Die Grenzen von Anpassung und Widerstand verschwimmen hier zu einem konturlosen Lavieren zwischen eigener Sicherheit und zaghafter Auflehnung.

Die Autorin versteht es, die Überheblichkeit des Außenstehenden, des von Willkür und Terror nicht Betroffenen, in eine Intimität mit der Diktatur, in der zwischen richtig und falsch zu entscheiden eine Frage über Tod und Leben sein kann, zu verwandeln und den Leser somit in eine Position der Differenzierung gegenüber absoluten Betrachtungsweisen zu bringen. Kettly Mars ist zurecht eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen unserer Zeit.




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