Buchkritik -- Helmut Wlasak -- Nicht schuldig

Umschlagfoto, Buchkritik, Helmut Wlasak, Nicht schuldig, InKulturA Das, was wir Zivilisation nennen, ist ein Firnis, ein dünner Überzug aus Ethik und Handlungsgeboten, der, in Gesetzen formuliert, dafür sorgen soll, dass das Tier in uns und die immer latent unter der Oberfläche brodelnden atavistischen Triebe gebändigt und eingehegt werden.

Wie auch immer das Ausbrechen aus dem gesellschaftlich erlaubten Rahmen aussieht, immer steckt dahinter ein Individuum mit seiner persönlichen Geschichte. Wer könnte darüber besser Auskunft geben, als jemand, dessen Aufgabe es ist, eben diese Sanktionen zu verhängen, die, im besten Fall, dafür sorgen, dass sowohl der Gerechtigkeit Genüge getan wird und der Delinquent oder die Delinquentin Reue und Scham über die vorgenommenen Handlungen empfindet?

Der Strafrichter Helmut Wlasak ist einer derjenigen, der täglich mit den Abweichungen vom noch Tolerierten und mit den Abgründen menschlichen Verhaltens zu tun hat. Die Fälle über die er berichtet, sind alltägliche juristische Praxis. Drogen-, Wirtschafts-, Mord- und Totschlag- und Dschihadistenprozesse, in denen ge- und verurteilt werden muss. Kein leichter Job, zumal nicht jede vor Gericht stehende Person per se ein Verbrecher ist, sondern manchmal auch ein Opfer der Umstände, das an einem bestimmten Punkt seines Lebens falsch abgebogen ist und sich im Labyrinth der Einbahnstraßen verirrt hat.

Gibt es so etwas wie die „üblichen Verdächtigen“ bei den Motiven der Angeklagten? Na klar, Sex, Gier, Drogen und andere menschlich, allzu menschliche Beweggründe, die neben skurrilen Vorfällen im Gerichtssaal auch Grausamkeit und selbstzerstörerisches Verhalten zutage fördern.

So eingängig sich die einzelnen Kapitel auch lesen, sollten sich die Leserinnen und Leser doch immer vor Augen halten, dass in jedem von uns eine Grenze vorhanden ist, die zu übertreten nur ein kurzer Augenblick, der uns einen scheinbaren Vorteil suggeriert, genügt und der uns, wenn wir nicht reflektierend eingreifen, ebenfalls im Labyrinth der Einbahnstraßen verirren lässt.

Saturierte Arroganz ist also fehl am Platz, denn der zivilisatorische Firnis ist dünn. Bei jedem von uns.




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Veröffentlicht am 9. Januar 2023