Buchkritik -- Peter Raedts -- Die Entdeckung des Mittelalters

Umschlagfoto, Peter Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters, InKulturA Jede historische Epoche läuft Gefahr, zumindest aus der Rückschau, von den Gegenwärtigen als unmodern, verstaubt, ja geradezu als reaktionär zu gelten. Mit der Hybris einer anmaßenden State of Art Attitüde hält die jeweilige Gegenwart sich, ob zu Recht oder nicht, für die ihren Vorläufern gegenüber maßgebend.

So war z. B. das historische Bewußtsein hinsichtlich des Mittelalters lange Zeit gleich null, denn die Periode nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches galt Historikern als dunkles Zeitalter, in dem Aberglaube und die Knechtschaft des Katholischen das Leben der Menschen bestimmte. Peter Raedts hat die auch für den historischen Laien interessante Frage gestellt - und beantwortet - wann und weshalb das Mittelalter wieder in den Fokus der politischen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit geraten ist.

Das Mittelalter oder die 1000jährige Dunkelheit war bis zum Ende des 14. Jahrhunderts eine Nichtzeit, weil die europäische Kultur ihren Ausgangspunkt ausschließlich in der Antike verortete. Erst mit dem Beginn des Renaissance bzw. mit dem Auftreten der Humanisten - obwohl auch von ihnen noch geschmäht - und besonders durch das Geschichtsverständnis Petrarcas, für den weder Vergangenheit noch Zukunft gottgemacht sind, sondern die Entwicklung von den Menschen bestimmt wird, entwickelte sich das Bewußtsein für eine Vergangenheit, die, da man der Meinung war, die antiken Autoren seien keine Hilfe mehr für die Herausforderungen der Gegenwart, das Mittelalter erstmals wieder als historische Fundgrube politischer Legitimation betrachtete.

Im Gegensatz zum europäischen Süden, der mit der Gegenreformation, wie Raedts es ausdrückt, bemüht gewesen ist, die "...katholische Vergangenheit von frommen Geschichten und Legenden befreien, um so die Wahrheit des Glaubens noch triumphierender erstrahlen zu lassen.", war der Norden daran interessiert, den Gründungen von Nationalstaaten eine historisch abzuleitende Berechtigung zu geben.

Das Mittelalter wurde, um es modern auszudrücken, regelrecht ausgeschlachtet. Archive, Dokumente- und Urkundensammlungen wurden durchforstet, um die jeweiligen (Macht)Ansprüche historisch zu untermauern. Ende des 17. Jahrhunderts, als der Streit über die Autorität antiker Überlieferungen seinen Höhepunkt hatte, entdeckten die europäischen Nationen, dass der Kontinent außer der antiken noch eine andere Vergangenheit besaß, nämlich die des Nordens und des Mittelalters.

Der Autor beschreibt mit einer erfrischenden Diktion - Dank an das Übersetzerduo Klaus Jöken und Stefanie Schäfer - diese ideologisch manchmal verwirrende Periode der staatlichen Legitimationsbestrebungen und führt dem Leser damit eindringlich vor Augen, dass die Kenntnis der Vergangenheit manchmal vonnöten ist, um die gegenwärtige Position relativieren zu können, doch als gesellschaftlich-politische Handlungsanweisung ist der Rekurs auf die Geschichte nur bedingt hilfreich, zumal wenn, wie Raedts es eindringlich beschreibt, dieser in unrealistische Schwärmereien ausartete, von denen sowohl rechte Romantiker als auch Katholiken und Sozialreformer befallen wurden.

"Die Vergangenheit ist eine Grabbelkiste, aus der jede neue Generation Stücke und Fragmente herauszieht, um aus ihnen eine Geschichte zusammenzustellen, die helfen kann, die eigene Zeit besser zu verstehen.", so einer der letzten Sätze Raedts, der die Frage offen lässt, ob "...das Mittelalter irgendwann in der Zukunft wieder [...] relevant wird."

Bereits 2011 in holländischer Sprache erschienen, liegt das Buch "Die Entdeckung des Mittelalters" von Peter Raedts durch die dankenswerte Initiative der Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt jetzt auch in einer deutschen Übersetzung vor.




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Veröffentlicht am 4. Oktober 2016