Buchkritik -- Christopher Clark -- Die Schlafwandler

Umschlagfoto, Christopher Clark, Die Schlafwandler, InKulturA Die Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist spätestens seit dem Buch "Griff nach der Weltmacht" von Fritz Fischer festgeschrieben. Historiker, die ohnehin gern dem intellektuellen Mainstream folgen - sonst droht der Verlust wissenschaftlicher Reputation - perpetuierten diese These, die letzten Endes - in den Schulbücher - dargestellt, das historische Bewusstsein - falls es ein solches überhaupt noch gibt - ganzer Generationen geprägt hat.

Seit 1961, dem Erscheinungsjahr Fischers Generalschuldthese gab es keinen nennenswerten wissenschaftlichen Versuch, diese tradierte Festschreibung zu hinterfragen oder gar aufgrund historischer Tatsachen korrekt zu widerlegen. Wohl aus diesem Grund wurde das neue Buch von Christopher Clark "Die Schlafwandler" mit Spannung erwartet, denn immerhin geht darin um nichts weniger, als die These von der Alleinverantwortung Deutschlands für diesen Krieg einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Nicht nur die Fachwelt kennt den Autor als einen Historiker, der spätestens nach seiner Wilhelm II.-Biographie und seinem Preußenbuch als ein Autor gilt, der sich weniger um gewohnte Betrachtungsweisen kümmert, sondern der historische Fakten zur Grundlage seiner Forschung macht. Für jeden Historiker eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die jedoch, geht es um die Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, zumeist ein Desiderat geblieben ist.

So beginnt Christopher Clark sein Buch dann auch nicht mit dem Attentat von Sarajevo, bei dem am 28. Juni 1914 der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Gemahlin Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, getötet wurden, sondern bereits elf Jahre zuvor, als in Belgrad der serbische Monarch Alexander durch putschende Offiziere erschossen und anschließend zerstückelt wurde. Spätestens seit diesem Moment war Serbien ein politisches Pulverfass, dessen Politiker, unterstützt durch die "Schwarze Hand", ein panslawistisches Untergrundnetzwerk, deren Einfluss weit in Armee- und Geheimdienstkreise reicht, die Befreiung der angeblich von Wien und Konstantinopel unterdrückten slawischen Brüder propagierten. Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajevo, wurde von diesem Netzwerk bei seinem Anschlag auf den österreichischen Thronfolger unterstützt.

Die internationale Politik des frühen 20. Jahrhunderts war geprägt von Bündnissen, Geheimabkommen, Beistandsverpflichtungen und Kolonialinteressen. Russland, dass das Habsburger Reich auf dem Balkan schwächen will, gibt Serbien, vertraglich festgelegt, freie Hand für einen Krieg gegen das Osmanische Reich. Worauf Serbien, Bulgarien und Griechenland die europäischen Provinzen der Osmanen unter sich aufteilen. Frankreich, seit 1892 mit den Russen und ab 1904 mit England gegen das Deutsche Reich alliiert, versichert dem Zaren im Fall eines österreichischen Militärschlags gegen Serbien den Bündnisfall auszurufen.

Der folgende Krieg war, so Christopher Clark, alles andere als unvermeidbar. Sein Ausbruch wurde geradezu begünstigt durch die Instabilität der geschlossenen Bündnisse. Dazu kam, so wiederum Clark, die Tatsache, dass die deutsche Diplomatie nicht in der Lage gewesen ist, die politische Entwicklung auf dem Balkan richtig einzuschätzen. Da man in Deutschland - im Gegensatz zu der These Fritz Fischers - mit einem regional begrenzten Krieg auf dem Balkan rechnete, gab es keinen Anlass auf deutscher Seite groß angelegte Kriegsvorbereitungen zu unternehmen. Deutschland wusste schlicht und ergreifend nicht, auf was für ein Abenteuer es sich mit seinem Verbündeten in Wien einlassen würde.

Fern davon, die Frage der Kriegsschuld an die Adresse einer einzigen Nation zu richten, geht es Christopher Clark darum, die Mechanismen zu zeigen, die zu der ersten Katastrophe des 20. Jahrhunderts geführt hat. Es gibt nicht den einen Bösen oder die Guten; der Ausbruch der Kriegsausbruch hatte diverse Auslöser.

Eines jedoch ist klar, der Erste Weltkrieg legte die Grundlagen dafür, ein bis dahin weitgehend friedliches Europa in zukünftigen Kriegen und Krisen zu verstricken. Der Aufstieg des Nationalsozialismus, der Ausbruch des zweiten Weltkriegs, Hitler und Stalin wären nicht denkbar, ohne das Versagen europäischer Politiker, die, wie Clark es treffend ausdrückt, wie Schlafwandler agiert und dadurch einen ganzen Kontinent in die Krise gestürzt haben.

Heute liegen die Krisengebiete im Nahen Osten, im Irak und im Chinesischen Meer. Da kommt ein Buch wie "Die Schlafwandler" gerade rechtzeitig, um zu erkennen, wie wichtig es ist, diese bereits weit im Vorfeld zu entschärfen.




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Veröffentlicht am 19. November 2013