Buchkritik -- Larry Siedentop -- Die Erfindung des Individuums

Umschlagfoto, Larry Siedentop, Die Erfindung des Individuums: Der Liberalismus und die westliche Welt, InKulturA Ein Kennzeichen des Verfalls der Moderne liegt darin, dass die westliche Welt ihre eigenen Werte und deren Grundlagen in Frage stellt und anstelle dessen einen Kulturrelativismus gesetzt hat, der sich spätestens seit Ende der 60er Jahre daran gemacht hat, den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der unbedingt eine Kanonisierung von Leitbildern und Idealvorstellungen erfordert, zu zerstören.

Eines dieser westlichen Leitbilder ist der Begriff des Individuums, der so in keinem anderen Teil der Welt seine Ausformung erhalten hat, wie in den europäischen Ländern, in denen das Christentum die maßgebliche Religion gewesen ist. Larry Siedentop zeigt in seinem Buch "Die Erfindung des Individuums: Der Liberalismus und die westliche Welt" die Entwicklung des Bildes eines in seinen Entscheidungen freien Menschen aus dem Geist christlichen Denkens.

Die Säkularisierung, eine Folgeerscheinung des Gedankens der Individualität, wird seit der Aufklärung, die mit den atheistischen Tendenzen der Französischen Revolution sympathisierte, gerne als ureigene Erfindung von Philosophen ausgegeben und dabei doch vergessen, Schleiermacher schreibt es in seinen "Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern", dass sie die Forderung nach Freiheit und Gleichheit ihrer Wurzeln berauben würden, wenn sie das Christentum darauf reduzierten, eine finstere Macht mittelalterlicher Herrschaftsausübung zu sein.

Ausgehend von der antiken Vorstellung der Familie mit quasi-religiöser Struktur und dem Vater als dominierende Identifikationsfigur und gesetzgebende Person, zeigt er in seiner groß angelegten Untersuchung, wie die Entwicklung des Christentums auf die Befreiung jeder einzelnen Person gewirkt hat.

Erst mit der Ausbreitung des Christentum, so Siedentop, erhielt die Vorstellung des Individuums Platz im Denken der Menschen. Die Möglichkeit Gott zu erkennen ist nach christlicher Vorstellung nur möglich, wenn dieser frei ist zur Erkenntnis des Göttlichen. Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, entwirft der Autor einen großen historischen Bogen von der Antike über die mittelalterliche Welt, die mit den bedeutender Klosterreformen, ausgehend von der Benediktinerabtei Cluny und der Papstrevolution, die, wie der Autor schreibt, "... eine Desakralisierung des Königtums und aller weltlichen Regierungen [bewirkte]..." und damit der weltliche Bereich erst durch die Kirche geschaffen wurde.

An dieser Stelle mag man dem Autor widersprechen, doch die gerade in Bezug auf die von der Aufklärung postulierte Trennungslinie zwischen christlicher Religion und neuzeitlichem Säkularismus ist, folgt man der Argumentation Siedentops, eine willkürliche, hat doch der Gedanke des Liberalismus seinen Ursprung im Gleichheitspostulat des Christentums.

Gerade das durch den Einfluss von Paulus definierte Christentum und seine Vorstellung des freien und verantwortlichen Individuums zieht sich stringent von der frühchristlichen Ablehnung des altrömischen Familienkollektivs - mit dem Vater als Gott ähnliche Figur - bis zu dem auf das Individuum bezogene Gesellschaftsmodell der Neuzeit, mit der Begrenzung staatlicher Gewalt.

Kurioserweise legte das Christentum damit jedoch die Axt an die eigenen Wurzeln, denn die Erfindung des Individuums bewirkte letztendlich die Gleichgültigkeit des Westens gegenüber seinen mit z. T. blutigen Auseinandersetzungen geführten Kampf um den Säkularismus und die, gerade den aktuellen islamischen Herausforderungen gegenüber demonstrierte Gleichgültigkeit

In Zeiten der westliche Konfusion über seine Wurzeln ist die umfangreiche Untersuchung Siedentops ein wichtiges Werk, um die lange verschütteten Ursprünge des Freiheitsgedankens der Moderne richtig einordnen zu können. In Bezug auf die Kampfansage des Islam gegen Freiheit und Trennung von Kirche und Staat ist das Buch von Larry Siedentop eine brillante Argumentationshilfe.




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Veröffentlicht am 7. November 2015p>