Buchkritik -- Peter Sloterdijk -- Was geschah im 20. Jahrhundert?

Umschlagfoto, Buchkritik, Peter Sloterdijk, Was geschah im 20. Jahrhundert?, InKulturA Peter Sloterdijk, nach seiner eindeutigen Positionierung gegen die staatlich verordnete Willkommenskultur der Kanzlerin vom deutschsprachigen Feuilleton endgültig zum Enfant terrible der Intellektuellenszene erklärt, ist derzeit der einzige Philosoph, dem es mit seinen Büchern und Aufsätzen gelingt, über den Tellerrand seines ureigenes Fachgebietes hinaus, die Philosophie von den aktuellen Fesseln der Aufsplitterung in sprachschwurblerische Einzelthemen und selbstverliebtem Nischengeplauder des realitätsentfernten Universitätsbetriebs zu befreien und immer wieder mit der Geschichte und der Entwicklung der, so der thematisch umtriebige Philosoph, "Domestikation der Menschheit" zu thematisieren. Philosophie, so Sloterdijk in seiner, auch diesmal wieder um Provokationen des saturierten Denkbetriebs nicht verlegen, neuen Veröffentlichung "Was geschah im 20. Jahrhundert?" muss sich wieder auf die Straße begeben, sie überhaupt erst einmal wieder zurückerobern.

Weg von der Akademie und direkt auf den Marktplatz mit seinen lebensprallen Figuren und Geschehnissen, das ist in nuce die Position dieses, bezüglich des monoton plappernden Zeitgeistes unentbehrlichen Denkers. In dieser Auswahl von Essays, Reden und Vorlesungen aus den zurückliegenden elf Jahren geht es, wie immer bei Sloterdijk, um Aggregatszustände, Vertikalspannungen und vom intellektuellen Mainstream abweichende Zustandsanalysen.

Den Autor vornehmlich als Philosoph zu verorten wäre angesichts der von ihm angesprochenen Themen, als da wären Anthropologie, Soziologie, Psychologie und immer wieder damit verbunden, Geschichte, zu kurz gegriffen. Sloterdijk ist ein philosophisch-literarischer Ausnahmeschriftsteller, dessen luzide Positionierung konträr dessen, was durch den politisch-medialen Komplex als erwünscht und toleriert ist, zu Einsichten abseits der staatlich initiierter Gehirnwäsche führt.

Aussagen wie "Nach Auskünften von Instituten für statistische Forschung werden in der arabischen Welt in den kommenden 20 Jahren mehrere hundert Millionen junge Männer für alle Arten von polemischen Aktivitäten bereitstehen. Es ist zu befürchten, daß nicht wenige von ihnen sich für religiös codierte Selbstvernichtungsprogramme rekrutieren lassen" machen deutlich, wie dringend eine Stimme der Vernunft im Zeitalter staatlich verordneter Zuwanderungsromantik benötigt wird.

"Was geschah im 20. Jahrhundert?" ist weniger eine Aufzählung dessen, was gern als "historische Fakten" den Weg ins veröffentlichte Bewusstsein finden soll, sondern eine Fundamentalkritik der zugrunde gehenden europäischen Kultur. Sloterdijk bringt dies in seinem Vortrag "Odysseus der Sophist – Über die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Reise-Stress" auf den Punkt. Odysseus als "Typus männlicher Existenz, in dem die altbekannte heroische Tatkraft, die ja in erster Linie Schlagkraft meinte, einen neuartigen Kompromiß mit der Klugheit schließt" ist ein Symbol für den "Anspruch auf Nicht-Hilflosigkeit", welcher einst das Fundament europäischen Bewusstsein gewesen ist.

Dieses ist aktuell in Gefahr vergessen zu werden, denn es findet eine Flucht in die "selbstverschuldete Unbeholfenheit" statt, die, so Sloterdijk, "... von dem Augenblick an, in dem die Ärmeren und weniger Könnenden sich weigern, aus welchem Grund auch immer, von den Mehrkönnenden und Reicheren so viel zu lernen, daß sie fähig werden, mit ihnen im Wettstreit zu treten." droht, zum Epitaph europäischer Geistesgeschichte zu werden. Wer, mit Ausnahme derjenigen, die lieber diffamieren als diskutieren, kann das bestreiten?




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Veröffentlicht am 26. Juni 2016