Buchkritik -- Gary Victor -- Soro

Umschlagfoto, Gary Victor, Soro, InKulturA Diesmal hat es Inspektor Azémar zu weit getrieben und mit der Frau seines Vorgesetzten und einzigen Freundes im haitianischen Polizeiapparat geschlafen. Als das große Erdbeben die Insel erschüttert, wird sie im gemeinsamen Hotelzimmer von herabfallenden Trümmern getötet. Pikanterweise erhält Azémar von Kommissar Solon den Auftrag, den Mann zu finden, mit dem seine Frau in ihren letzten Stunden zusammen gewesen ist.

Damit nicht genug, muss sich der Inspektor auch noch mit dem Fall eines angeblich ebenfalls dem Erdbeben zum Opfer gefallenen Malers beschäftigen und gleichzeitig zeigt sein Lieblingsgetränk, der aromatisierte Zuckerrohrschnaps soro, plötzlich unerwartete Auswirkungen.

Gary Victor legt mit Soro den zweiten Fall des haitianischen Kriminalpolizisten vor und bewegt sich mit diesem Roman ganz im Genre der Figur des Hardboiled detective, eines nach seinen eigenen Regeln handelnden Polizisten, der die Grenze zwischen Recht und Unrecht großzügig interpretiert und dadurch nicht selten die Methoden derjenigen anwendet, die er hinter Schloss und Riegel bringen will.

Soro, dieses starke, das Bewußtsein verstärkende - jedenfalls bei Azémar - Getränk, ist das Lebenselixier des Inspektors. Selten, eigentlich gar nicht lässt der Autor seinen Protagonisten Nahrung zu sich nehmen. Im Fall des von Azémar so geschätzten tranpe sieht das vollkommen anders aus. Sicher und daran gibt es nichts zu beschönigen, der Kriminalpolizist ist ein Alkoholiker. Jedoch einer derjenigen, denen der Stoff hilft Klarheit und Durchblick zu erlangen und dem es gelingt, dies in zielgerichtete Handlungen umzusetzen.

Ein guter Mensch ist er nicht und trotzdem, oder vielleicht gerade aus diesem Grund, gelingt es Azémar, auf seine Weise das Richtige zu tun. Er ist ein Verlierer, seine korrupten Kollegen lassen ihn das täglich spüren, der es nichtsdestoweniger schafft, in einem System, das moralisch verdorben ist, für einen Rest an menschlicher Würde zu sorgen.

Azémar hat eine Mission, die ihn, mit Hilfe seines geliebten tranpe, zum Richter und Henker in einer Person macht. In einem System, das korrupt, gewalttätig und desolat ist, übernimmt der in den Augen der haitianischen Gesellschaft, die wie kaum eine andere für die Verkommenheit zivilisatorischer Werte steht, Gescheiterte die Aufgabe des Rächers, der zwar die Zustände nicht ändern kann, der jedoch im Rahmen seiner Möglichkeiten für die Wiederherstellung eines halbwegs gerechten Zustands sorgt.

Gary Victor hat Inspektor Azémar seinen ursprünglichen Vornamen "Dieusoitloué" in "Dieuswalwe" ändern lassen und ihm damit ein Bekenntnis zur haitianischen Kultur gegeben. Dass dieser Name gleichzeitig "Gott sei gelobt" bedeutet, macht aus dieser eigentlich tragischen Figur einen Menschen, der sich des alt-testamentarische "Die Rache ist mein; ich will vergelten" bedient, um in einer aus den Fuge geratenen Welt etwas Ordnung ins Chaos zu bringen.




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Veröffentlicht am 9. Mai 2015