Buchkritik -- Gabor Steingart -- Die unbequeme Wahrheit

Umschlagfoto, Buchkritik, Gabor Steingart, Die unbequeme Wahrheit, InKulturA „… was fällt, das soll man auch noch stoßen.“ So lautet ein Spruch Nietzsches, der auch das Motto von Gabor Steingart sein könnte, der in seiner „Rede zur Lage der Nation“ die Bilanz eines sich, sollten die produktiven Köpfe weiterhin im Sand steckenbleiben, auf dem steilen Weg nach unten befindenden Landes zieht.

Die Corona-Krise hat, so der Autor, die latent vorhandenen, von politisch-medialer Seite jedoch immer wieder kaschierten strukturellen Probleme des Wirtschaftsstandortes Deutschland ans helle Tageslicht befördert. Schon lange vor dem Lockdown, ob gerechtfertigt oder nicht, begann sich der einstige glühende Kern, wie Steingart das wirtschaftliche Wachstum und die Prosperität der Bundesrepublik bezeichnet, sich abzukühlen.

Die globalen Probleme erfordern ein anderes Denken und das Festhalten an alten Mustern sorgt dafür, den zukünftigen Trend, den digitalen, zu verschlafen. Mit viel Geld, Geld, das gedruckt wird und für das unsere Kinder und Enkel eines Tages geradestehen müssen, pampert, so Steingart, eine hilflose Politik ohnehin zum Sterben verurteilte Wirtschaftszweige. Politiker gefallen sich darin, mit Sprechblasen zu reden und sich eher um die nächste Wahl und damit der eigenen Postensicherung zu kümmern, als Probleme anzugehen.

So weit, so gut. Das, was Gabor Steingart als „Die unbequeme Wahrheit“ herunterrasselt, liest sich trotz der etwas überzogenen kumpelhaften Ansprache der Leser durchaus flott und es findet eher Kopfnicken als -schütteln statt. Der Mann hat ja recht mit seinen Auslassungen, sagt sich der aufmerksame Leser dieser fast polemischen Attacke auf die „Weiter so“ Fraktion.

Doch wie sieht es mit den Vorschlägen des Autors aus, die, sollte diese Streitschrift mehr als die Aussagekraft eines Wortes zum Sonntag besitzen, zielführend und konkret beschreiben, wie aus dem Dilemma Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft eine stabile Zukunft zu generieren?

Den sich abkühlenden Kern wieder entflammen, sodass er einerseits Sogkraft für Kapital und Innovation bietet, andererseits seine dann hoffentlich hell leuchtende Flamme bis in seine kühleren Außenregionen strahlt. Hört sich gut und pathetisch an, doch wie realisieren im Zeiten, wo sowohl der Kumpel als auch der Facharbeiter, nicht zu vergessen Juristen, Ärzte und Journalisten von der Maschine ersetzt werden?

Die Maschine, synonym für die Digitalisierung der Wirtschaft, oder, wie Steingart es beschreibt, Kapital trifft auf Digital, macht, da der menschliche Faktor, dessen biologischen Voraussetzungen im Vergleich zur Maschine tödlich Schwächen sind, bislang gewohnten Formen der Wertschöpfung den Garaus.

Niemand scheint sicher zu sein, wenn der zu erwartende Siegeszug des Digitalen voranschreitet. Doch Gabor Steingart glaubt zumindest eine Lösung gefunden zu haben. Wir müssen nur unser geistiges Potenzial aktivieren, zündende Idee haben und uns in die veränderten Bedingungen in Form geistiger Anpassungsfähigkeit und kognitiver Selbstoptimierung einfügen.

Doch wohin mit den vielen, die dann nicht mehr gebraucht werden, die niemals wieder gebraucht werden. So schön, wie Steingart die postindustrielle Welt, die Vorteile autonomen Fahrens oder die fast unbegrenzten Möglichkeiten, die sich durch eine noch zu entwickelnde Künstliche Intelligenz bieten auch beschreibt, die Frage, wohin mit den dann Überflüssigen, wird nicht beantwortet.

So ist es dann auch zumindest etwas fragwürdig, wenn Gabor Steingart angesichts der nach Europa und Deutschland strömenden „Flüchtlings“Massen davon spricht, deren Potenzial durch gezielte Bildungsmaßnahmen zu nutzen. Wenn bereits, um noch einmal das Bild des Autors vom sich abkühlenden Kapital- und Innovationskern zu benutzen, viele der hier schon lange Lebenden bereits in der kalten Randzone sitzen, warum dann noch der Import von Humankapital?

Oder, ein böser Gedanke bezüglich neoliberalen Denkens, das den grenzenlosen globalen Austausch von Waren, Kapital und Menschen propagiert, wäre das nicht in Wirklichkeit der feuchte Traum des Raubtierkapitalismus?




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 26. September 2020