Buchkritik -- Heike Trojnar -- Es bleibt nur noch die Flucht

Umschlagfoto, Buchkritik, Heike Trojnar, Es bleibt nur noch die Flucht, InKulturA Warum kehren Menschen ihrer Heimat den Rücken? Aus welchen Gründen verlassen sie ihr gewohntes Umfeld, in dem sie lange Zeit gelebt haben, Verwandte und Freunde zurücklassend, in der Hoffnung, in einem anderen, fremden Land besser leben zu können als in dem Land, in dem sie geboren wurden?

Stellvertretend für viele Menschen, die sich den Migrationsströmen angeschlossen haben, stellt Heike Trojnar drei Frauen vor, deren Geschichte individuell einzigartig ist, jedoch, verallgemeinert man die geschilderten Umstände, die Motive für viele sich auf der Flucht befindenden Personen darstellen dürften.

Zahra stammt aus Afghanistan, einem Land, dessen patriarchalische Strukturen Frauen nur begrenzten Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe gestatten. Ehen werden zwischen Clans und deren männlichen Familienmitgliedern arrangiert und nicht selten verschwinden danach die Frauen vor den Augen der Öffentlichkeit durch das Anlegen der Abaya und des Niqab. Als ein Nachbar Zahra mit seinem Sohn verheiraten will, bringt ihr Vater sie nach Kabul, wo sie bei ihrem Onkel Amir vorerst in Sicherheit ist. Doch die Vergangenheit holt sie ein und deshalb, inzwischen verheiratet, beschließen ihr Mann und sie das Land zu verlassen.

Maisoun lebt mit ihrer Familie in Syrien und als sich die Situation in ihrer Heimatstadt Damaskus zuspitzt, die Versorgung mit Wasser und Strom nicht mehr gewährleistet ist und auch der vermeintlich ruhige und geschützte Stadtteil in dem sie wohnen mehr und mehr unter Beschuss steht, macht sie sich mit ihren Kindern auf den Weg nach Deutschland.

Samsams Heimat ist Mogadischu, die Hauptstadt von Somalia, in dem seit Jahren ein blutiger Bürgerkrieg wütet. Auch hier wird die Situation für die Familie untragbar und ihr Vater beschließt, seine Tochter hoch in den Norden des Landes, zu ihrer Großmutter zu bringen. Nach einer kräftezehrenden Fahrt, die von Angst, Krankheit und Scheitern bedroht ist, erreichen sie ihr Ziel. Doch zu welchem Preis, bleibt Samsam doch, da sie keinem der regionalen Clans angehört, eine Außenstehende und damit einsame Person, deren Schicksal es ist, ihre Familie niemals wiederzusehen. Sie lernt Anis kennen und verliebt sich in ihn. Bald nach ihrer heimlichen Hochzeit werden die Anfeindungen seitens Anis Familie, die diese Verbindung ablehnt, unerträglich, zumal ihr Mann nicht die Stärke besitzt, sich demonstrativ zu seiner Frau zu bekennen. Auch für Samsam bleibt jetzt als letzte Möglichkeit für ein besseres Leben nur die Odyssee in ein fernes Land.

Drei Frauen, drei bewegende Schicksale, die den Leser und die Leserinnen nicht unberührt lassen, nicht unberührt lassen dürfen, denn sie treffen jeweils eine Entscheidung, die Mut, Kraft und Zuversicht erfordert. Wir Europäer, die wir seit über einem halben Jahrhundert keine militärischen Konflikte am eigenen Leibe erfahren mussten, unsere Versorgung mit Strom, Lebensmitteln und ärztlicher Hilfe sicher ist, das politische System Freiheit, Chancengleichheit und Rechtssicherheit garantiert, können uns gar nicht vorstellen, wie groß der Leidensdruck dieser drei Frauen gewesen sein muss, dass sie sich für das Wagnis Flucht entschieden haben.

Die Porträts von drei Frauen, die für viele andere in einer ähnlichen Situation sich befindenden Frauen stehen dürften, zeigen individuelle Schicksale, die hinter den nüchternen Flüchtlingszahlen stehen, holen die Betroffenen aus der Anonymität der Fakten heraus und, hier trifft der abgenutzte Begriff „Einzelfall“ genau den Punkt, lassen Anteil nehmen an menschlichen Dramen, die uns wohlversorgten, saturierten und all zu oft gleichgültigen Europäern eine andere, eine schreckliche Welt zeigen, gegenüber der wir und die politisch Verantwortlichen in der Pflicht stehen, sie zu verändern.

Es stellt sich gerade angesichts des Lebenswegs von Zahra aber auch die Frage, ob man, und das ist durchaus ein vermintes Gebiet, mit dem von vielen Zeitgenossen propagierten Kulturrelativismus nicht in einer ideologischen Sackgasse endet, denn, davon kann ausgegangen werden, wären die Bedingungen in Afghanistan andere, für Frauen bessere, hätte sich Zahra nicht auf den gefährlichen und langen Weg nach Europa und eine ungewisse Zukunft gemacht.

„Es bleibt nur noch die Flucht“ ist ein Buch, das wohl kaum jemand beiseitelegen kann, um danach einfach zur Tagesordnung überzugehen.




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Veröffentlicht am 23. November 2019