Buchkritik -- Juli Zeh -- Unterleuten

Umschlagfoto, Juli Zeh, Unterleuten, InKulturA Wenn politisch gewollte und ideologisch forcierte Investitionsertragsträume auf eine scheinbar seit Jahrzehnten gewachsene und durch Leistung vornehmlich immaterieller Gefälligkeiten bestehende Dorfgemeinschaft irgendwo im Nichts von Brandenburg treffen, dann fliegen bald die Fetzen und vorbei ist es mit der, oberflächlich betrachtet, beschaulichen Ruhe. Wenn dann auch noch, wie in dem mit über 600 Seiten prall gefüllten Roman menschlicher Befindlichkeiten, sog. Wessis, teils Großstadtflüchtlinge aus dem Moloch Berlin, teils rabiate, ihrem Motivator und Neuzeitgötzen des schnellen Mammons, Manfred Gortz, wortgetreu folgende Apologeten mitmischen, ist die Katastrophe vorprogrammiert.

Unterleuthen, ein fiktives Dorf in der märkischen Streusandbüchse, ist der Schauplatz von Juli Zehs groß angelegtem Panorama humaner Tragödien, in denen die Realität auch des letzten Dorfes der Republik besteht. Der Mensch kann - theoretisch - aus allen Verhältnissen fliehen, außer dem seiner eigenen Geschichte. Diese bestimmt, ob er es will oder nicht, sein ganzes Leben und gerade in einer dörflichen Gemeinschaft, die binnen weniger Jahrzehnte zwei an den Menschen vorgenommene ideologische Großversuche über sich ergehen lassen musste, kommen unweigerlich die verdrängten Konflikte an die Oberfläche alltäglicher Behaglichkeit, wenn der Kapitalismus in Form von erneuerbarer Energie und deren Renditeversprechen die gepflegte Beschaulichkeit tief vergrabener Animositäten zerstört und alte, angeblich längst vergessene Gräben wieder aufreißt.

"Unterleuten" ist ein Kaleidoskop gescheiterter und scheiternder Hoffnungen auf Glück und Harmonie. Da sind die Rivalen Kron und Gombrowski, letzterer ehemaliger Großgrundbesitzer, durch den realen Sozialismus enteignet und ersterer, nach dem staatlich legitimierten Diebstahl des realen Sozialismus zum LPG Brigadeführer avanciert. Zwischen beiden steht der Ortsvorsitzende, der, immer im Bestreben das Beste für Unterleuthen zu erreichen, oft den seit der Wende wieder im Besitz seiner Ländereien sich befindenden Gombrowski unterstützt. Schließlich ist der der einzige, der mit seinem Gut „Ökologica“ für Arbeitsplätze im Ort sorgt.

Da sind die Berliner Gerhard und Jule Fließ. Er ein gescheiterter Akademiker, der die Karriere - über die Stellung eines wissenschaftlichen Assistenten ist er nie hinausgekommen - seiner bornierten und unflexiblen politischen Einstellung geopfert hat und eine 20 Jahre jüngere Frau, eine ehemalige Studentin, geheiratet hat. Mir ihr und deren gemeinsamer Tochter hat er Berlin den Rücken gekehrt und in Unterleuthen ein Haus erworben, in der Hoffnung, einen Neuanfang machen zu können. Als Leiter der regionalen Naturschutzbehörde erhält er endlich die Möglichkeit, in begrenztem Umfang Macht auszuüben.

Da ist der ewige kleine Junge Frederik und seine energische Frau Linda, ein Rossweib, deren Lebensmittelpunkt weniger ihr Lebensgefährte ist, als vielmehr ihr Hengst, mit dem sie in Unterleuthen eine Pferdezucht eröffnen will. Vervollständigt wird der altbundesrepublikanische Immobilienerwerb durch den Investor Meiler, der, eher zufällig, Besitzer eines Grundstücks in der Region wurde, auf dem ein Windpark gebaut werden soll. Doch dazu benötigt er, und die beiden anderen Interessenten Kron und Gombrowski, Teile des Grundstücks, das Frederik und Linda gehört. Vorhang auf, für die Bühne der Tragikomödie.

Juli Zeh hat in ihrem Roman diesen vordergründig so beschaulichen Ort zu einem Kampfplatz menschlicher Abgründe gemacht und damit auch den Finger an die Wunde einer Moderne gelegt, die sich ausschließlich in materiellen Kategorien definiert. Geld und Macht, beides seit eh in einer symbiotischen Beziehung, diktieren durch den geplanten Windpark plötzlich die Beziehungen der Menschen in Unterleuthen.

Es kommen, geschürt durch Gerüchte, alte Animositäten wieder zur Sprache und die neuen Dorfbewohner ergreifen, durchaus in Unkenntnis der vergangenen Verhältnisse, Partei und machen aus dem schwelenden Konflikt einen Flächenbrand mit katastrophalem Ausgang. Juli Zeh hat ihren Figuren eine Mischung, und das ist nur ein herausragendes Beispiel für ihre sorgfältige Betrachtung des menschlich, all zu menschlichen Verhaltens, aus Zu- und Abneigung gegeben.

Niemand ist wirklich schlecht - wenn man denn diese Kategorie benutzen will - sondern jeder befindet sich auf dem schmalen Grad zwischen Egoismus und dem Wohl des Gemeinwesens. Jeder glaubt, und das ist das fatale, aber grandios von Zeh inszenierte Modell, im Recht zu sein und richtet sein Handeln daran aus.

Es gibt kaum ein Thema moderner Problematik, das die Autorin nicht zumindest streift. Die Unmöglichkeit generationenübergreifender Kommunikation. So besteht eine unüberwindbare Barriere zwischen dem Investor Meiler und Menschen wie Frederik und Linda, die auch in einem Paralleluniversum leben könnten, denn ferner könnten die gegenseitigen Einschätzungen nicht sein.

Da kommt die politisch inszenierte Geldvermehrungsmaschine erneuerbare Energie vor, die durch Zufall darüber entscheidet, wer zu den Gewinnern gehört und wer nicht. Da ist der ewige wissenschaftliche Assistent, der zwar gern agitiert, der jedoch, als er in der Naturschutzbehörde eine leitende Funktion ergattert, zu einem Blockwart mutiert und aus opportunistische Gründen seine Ideale verrät. Als er endlich handelt, wird ihm ausgerechnet das zum Verhängnis.

"Unterleuten" ist ein großartiges Werk, das neben der erzählerischen Qualität die große Bandbreite menschlicher Irrungen und Wirrungen beschreibt. Für mich ist dieser Roman bereits jetzt das Buch des Jahres.




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Veröffentlicht am 3. April 2016