Buchkritik -- Marcus Ertle -- Warten auf ...: Zufallsinterviews

Umschlagfoto, Marcus Ertle, Warten auf ...:Zufallsinterviews, InKulturA Interviews haben eigentlich ihren angestammten Platz in den Medien. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen sind dann auch die Tummelplätze von Selbstdarstellern politischer oder künstlerischer Provenienz. Banale Fragen von linientreuen Moderatoren oder Journalisten ergeben bestenfalls Belanglosigkeiten oder, im Fall von Politikern, Lügengeschichten und Realitätsverzerrung. Gerüchten zufolge steigt bei Fernsehinterviews der Wasserverbrauch durch die Toilettenspülung in noch größerem Umfang als bei den Werbeblöcken des Privatfernsehens.

Nicht so in dem Buch von Marcus Ertle "Warten auf ...:Zufallsinterviews". Augsburg ist das Revier, in dem der Autor den Menschen mal behutsam, mal frech auf den Zahn fühlt. Die Gelegenheit, die Ertle sich dafür aussucht, ist alltäglich. Jeder von uns verbringt viel Zeit damit, auf irgend etwas zu warten. Bus, Bahn, die Liebste oder den Liebsten, manchmal auch einfach nur auf gar nichts.

Diese Momente der oft unfreiwilligen Rast nutzt der Autor, um mit Menschen, mit normalen Zeitgenossen ins Gespräch zu kommen. Die Themen sind, genau so wie die Bekanntschaften, zufällig. Gott, die Liebe, das Geld, einfach vieles, was denjenigen gerade so durch den Kopf geht. Natürlich lenkt Ertle das Gespräch durch gezielte Fragen, doch er lässt seinem kurzzeitigen Gegenüber genügend Raum und Luft, um, manchmal spontan, manchmal etwas detaillierter, antworten zu können.

Herausgekommen sind keine weichgespülten und vorformulierten Antworten, sondern das, was man "hart am Leben" nennt. 40 Interviews hat Ertle in seinen Buch aufgeführt und wer jetzt denkt, dass das doch wohl eher eine langweilige Lektüre sein muss, der irrt gewaltig. Gerade in der Vielzahl der geführten Kurzgespräche liegt der Reiz dieses Experiments.

Der Leser bekommt keine Worthülsen und Leerformeln präsentiert, sondern interessante Einblicke in das Innenleben und die momentanen Befindlichkeiten von Menschen, an denen man in der Regel vorbei geht, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Marcus Ertle reißt mit seinen Interviews kurz die zwischenmenschliche Distanz auf, die ansonsten das gesellschaftliche Miteinander bestimmt. Für wenige Augenblicke halten fremde Individuen inne und sind bereit, über sich selber Auskunft zu geben, ja sogar in einigen Fällen über ihr Leben zu reflektieren.

Man könnte den Einwand erheben, dass der Leser zum Voyeur, zum unerlaubt Zuhörenden wird. Dem entgegen steht jedoch die lockere Art von Ertle im Umgang mit seinen Partnern. Er drängt nicht in die Defensive, sondern hält sich klug im Hintergrund. Dabei ist er auch ein aufmerksamer Zuhörer und kann manche seiner Zufallsbekanntschaften sogar aus der Reserve locken. Ein Leser, der auch gelernt hat, ein Buch zu hören und der in der Lage ist, den angeschlagenen Töne zu lauschen, wird feststellen, wie viel Philosophie in diesen 40 Interviews steckt. Gerade das macht die Lektüre so spannend.

Mein persönlicher Favorit ist Mani, der Taxifahrer. Auf die Frage von Marcus Ertle nach dem Sinn des Lebens antwortet der ganz locker: "Man muss seinen Weg finden, ihn gehen und menschlich bleiben". Klasse Spruch - nicht nur für Kutscher!




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